Warum ein Lehrer aus Gütersloh manchen Schülern rät, sich nicht durchs Abi zu quälen

Herr Steier, wie war das bei Ihrer Berufswahl, wollten Sie immer schon Lehrer werden? Berthold Steier: Ja, seit der Grundschule schon. Ich fand meine Klassenlehrerin so großartig, dass ich mit neun Jahren das erste Mal gesagt habe: Ich werde Lehrer. Klingt, als hätten Sie ein gutes Vorbild gehabt, das Ihnen Orientierung gegeben hat? Das hat auf jeden Fall eine Rolle gespielt. Was glauben Sie, an was orientieren sich Jugendliche heute? Sicherlich auch an ihren Eltern, möglicherweise an Verwandten. Neulich haben mir Schüler gesagt, dass für sie das Treffen mit den ehemaligen Abiturienten dieser Schule am wichtigsten war. Wir laden regelmäßig und bewusst ehemalige Abiturienten der JKG ein. Was diese Ehemaligen darstellen und präsentieren, hat für die jetzigen Schüler einen großen Vorbildcharakter. Fehlen den Jugendlichen gute berufliche Vorbilder? Schwer zu sagen, die Frage ist, was kann Schule tun? Wir können Kontakte herstellen, wir können Vorbilder liefern, Schüler in die Praxis bringen und damit in Kontakt mit Menschen, die Führungsverantwortung in der Wirtschaft haben. Mehr können wir nicht tun. Es ist wichtig, dass Eltern ihre Kinder auf dem Weg begleiten. Sind Eltern die richtigen Ratgeber? Deren Erfahrungen dürften nach 20 Jahren doch auch überholt sein, oder? Eltern sind keine Berufsberater, Eltern sind Persönlichkeitsberater. Die Veränderungen sind nicht das Entscheidende, die haben Schüler ohnehin nicht im Blick – und das müssen sie auch nicht. Was sie im Blick haben müssen, sind sie selbst. Die eigene Rolle, die eigene Verantwortung, das Entwickeln von Zielen, das Entwickeln von Selbstbewusstsein. Das alles zusammen würde ich eher als Kern von Berufsorientierung betrachten. Und dabei können Eltern helfen auch wenn sich die Arbeitswelt und die Welt insgesamt gerade sehr stark verändern. Der Fachkräftemangel ist gravierend. Zugleich wissen wir von Branchen, wie etwa im Pflegebereich, dass die Bedingungen schwierig sind. Sollte man trotzdem motivieren, diese Berufe zu ergreifen? Grundsätzlich glaube ich, dass jede Branche ihre Stärken und Schwachstellen hat. Manchmal bin ich überrascht, wie viele Jugendliche sich tatsächlich für Pflegeberufe und Gesundheitsberufe im allgemeinen interessieren. Davon würde ich niemals abraten. Im Gegenteil. Mich freut es, dass Jugendliche trotz der Krisenhaftigkeit der Branche Lust haben auf diesen Bereich. Junge Menschen blenden die Begleitumstände oft aus. Und das ist auch richtig so. Man sollte darauf gucken, was einem Spaß macht. Sie begleiten die Berufsorientierung in der Schule schon seit 15 Jahren. Erleben Sie Schüler heute anders bei der Berufswahl als früher? Ich erlebe sie engagierter und verantwortungsbewusster. Vier von fünf Schülern wissen kurz vor dem Abitur, was sie machen wollen. Das war vor ein paar Jahren nicht so. Ich habe mich in den vergangenen Jahren bei den Schülern regelrecht beschwert, denn ich bin der Meinung, es gibt noch etwas anderes auf der Welt als eine Weltreise machen zu wollen. &bdquo;Work and travel“ ist nicht das Ziel von Berufsorientierung. Ich möchte, dass sie sich mit ihrer Zukunft auseinandersetzen. Mittlerweile tun das die meisten. Erstmalig gibt es mehr Betriebe als Bewerber. Ist das eine erfreulich komfortable Situation für Abiturienten? Ja und Nein. Bei der Berufswahlorientierung spielt das gar keine große Rolle, weil die Orientierungsnotwendigkeit trotzdem gegeben ist. Die Situation macht es uns nicht leichter. Die Frage &bdquo;wo sehe ich mich in meinem Leben“, die bleibt. Drängen die Unternehmen in die Schulen, um etwas näher an den Absolventen zu sein und damit die besten Fachkräfte frühzeitig an Land zu ziehen? Nein. Das dürften sie gerne, ich hätte nichts dagegen. Manches lässt sich aber tatsächlich organisatorisch nicht gut regeln. Wir sind Schule und müssen in erster Linie Unterricht machen. Trotzdem wünschen Sie sich als Lehrer für Berufsbegleitung Verbesserungen. Wo denn konkret? Wenn wir als Schule engagiert arbeiten wollen, brauchen wir Geld. Projekte wie &bdquo;Abitur – und wie weiter?“ kosten rund 10.000 Euro. Dazu zählen Workshops und individuelle Einzelgespräche. Ich bin voll und ganz von dem Programm überzeugt, denn es konzentriert sich auf die Motivationsförderung der Schüler. Die Trainer machen einen guten Job. Um dieses Geld jedes Jahr aufzutreiben, gehe ich als Lehrer allerdings klassisch Klinken putzen. Wir sind auf Unterstützung aus der Wirtschaft angewiesen. Das Land zahlt nichts? Nein. Die Agentur für Arbeit hat sich als Förderer schon vor Jahren aus dem Projekt verabschiedet und auch sonst macht es uns der Staat nicht leicht. Was meinen Sie konkret? Dimension 21 ist der private Anbieter des Projektes. Die Kosten lagen bei 80 Euro netto pro Schüler. Ich begleite das Projekt nun von Anfang an seit 15 Jahren, der Preis war immer gleich. Die Eltern zahlen einen Eigenanteil von 20 Euro. Jetzt sind die Kosten pro Schüler auf 100 Euro gestiegen, weil der Staat beschlossen hat, dass auf die Rechnung Mehrwertsteuer gezahlt werden muss. Schulen und Stiftungen waren davon bislang ausgenommen. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir tatsächlich 20 Prozent mehr Geld auftreiben müssen. Und das ist für uns als Schule wirklich nicht leicht. Die Stadtwerke sind als Förderer ausgestiegen, die Sparkasse gibt einen Pauschalbetrag für die ganze Schule und wenn wir die Osthus-Henrich-Stiftung und Güth & Wolf als Förderer der Maßnahme nicht hätten, könnten wir diese Arbeit mit unseren Schülerinnen und Schülern nicht mehr fortsetzen. Und um es ganz konkret zu machen: ob wir 2023 das benötigte Geld erhalten, wissen wir nicht. Die Abbrecherquote bei Ausbildungsberufen lag in 2022 bei 25 Prozent. Die gleiche Zahl liegt bei den Studienabbrechern vor. Solche Irrtümer können wir uns volkswirtschaftlich doch eigentlich nicht leisten, oder? Das sind genau die Zahlen, die ich Eltern gerne vor Augen führe, um deutlich zu machen, wie wichtig Berufsorientierung ist. Wir als Schule haben Grenzen. Ich glaube es hat insgesamt viel damit zu tun, dass wir eine hohe Abiturientenzahl haben und dass viele Schüler ein Studium probieren, mit dem sie überfordert sind. Es gibt in Deutschland 10.000 Bachelor- und 10.000 Masterstudiengänge. Dass man sich bei diesem Angebot verläuft, liegt auf der Hand. Deshalb ist das Praktikum der Kern jeder Berufsorientierung. Vielleicht wäre ein zweites Praktikum in der Oberstufe sinnvoll? Wenn ich Schüler dazu frage, erhalte ich genau diese Rückmeldung. Ein zweites Praktikum ist deshalb überlegenswert. Das ist aber eine politische Entscheidung, keine schulinterne. Ist die Bereitschaft der Betriebe gesunken, Praktikanten aufzunehmen? Nein. Corona hat leider dafür gesorgt, dass zwei Jahre quasi kein Praktikum stattgefunden hat. Wir als Schule haben viele Betriebe angeschrieben und um Aufnahme der Schülerpraktikanten gebeten. Inzwischen ist das Ganze wieder in normalem Fahrwasser. Es zeichnet sich ab, dass wir einen eklatanten Handwerkermangel erleben werden. Ist es dringend geboten, Schüler in Handwerksberufe zu bringen? Ja, unbedingt. Weil auch nicht alle, die ihr Abitur schaffen, gut beraten sind, ein Studium zu beginnen. Es sind nicht alle Schüler Akademiker. Hier müsste gesellschaftlich dringend etwas passieren. Den Schülern ist absolut bewusst, dass der Status von akademischen Berufen höher ist als der von Handwerksberufen. Man ist nicht so angesehen, wenn man eine Ausbildung macht. Viele Schüler fühlen sich deshalb unter Druck. Auch Schüler mit Migrationshintergrund spüren den Druck von Zuhause, das Abitur zu schaffen. Wir reden hier über eine Statusfrage, denn der Verdienst liegt bei Handwerksmeistern höher als bei vielen Akademikern. Abitur kann für manche auch eine Illusion sein. Sie raten zum Verzicht? Es gibt Schüler, denen ich empfehle mit dem Abschluss der Fachhochschulreife zufrieden zu sein, sich nicht weiter zu quälen und zudem dem Risiko auszusetzen, im Abitur zu scheitern. Der Druck ist enorm und eine solche Misserfolgserfahrung zu erleben ist nicht schön. Das prägt. Also sollten sich Schüler und Eltern fürs Glücklichsein entscheiden und im Zweifel gegen den Erfolg? Glücklichsein und erfolgreich! Das ist keine Alternative.

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