Gesundheitsamtsleiterin des Kreises Gütersloh warnt vor Corona-Freedom-Day

Frau Bunte, zwei Jahre ist es her, dass der erste Coronafall im Kreis Gütersloh bestätigt wurde und das Land in den Lockdown ging. Sind Sie auch so coronamüde wie wir alle?ANNE BUNTE: Das Wort coronamüde würde ich so nicht in den Mund nehmen. Ich glaube, dass wir auch weiterhin überrascht werden, was Corona bringt. Und jetzt kommt zu der Pandemie noch einmal eine ganz andere – geopolitische Lage – hinzu, mit der viele genauso wenig gerechnet haben wie mit Corona. Der Kreis vermeldet nun wieder täglich steigende Infektionszahlen. Kommen wir aus dieser Schleife denn nicht heraus?Auch andere Infektionserkrankungen begleiten uns. Um die Jahrtausendwende gab es das Gefühl, Infektionskrankheiten spielen in unserem Leben keine Rolle mehr. Dann kam SARS CoV 1, Ebola, Lassa, es kamen vermehrt die Masern oder zunehmend multiresistente Erreger wie MRSA und Zoonosen, die vom Tierreich auf den Menschen übergehen, was auch mit dem Begriff &bdquo;One Health“ als interdisziplinärer Ansatz beschrieben wird. Wir haben immer geglaubt, wir könnten alles im Griff haben, um dann festzustellen, dass es eben nicht so ist. Wir müssen mit dieser Situation leben.Lesen Sie auch: Newsblog zum Coronavirus – alle Entwicklungen im Kreis Gütersloh In Sachen Corona werden jetzt die Restriktionen gelockert. Alles wird besser, heißt es. Wie sehen Sie das?Woher nimmt man die Gewissheit zu sagen, alles wird besser? Wir haben sicherlich einen Wechsel in der Entwicklung der Pandemie, Corona wird endemisch und uns weiter begleiten. Wir haben verschiedene Varianten, die Varianten unterscheiden sich in ihren Auswirkungen auf die Gesundheit. Wir müssen lernen, damit umzugehen. Wir sehen, dass gerade bei Atemwegserkrankungen andere Länder mit wenigen Maßnahmen schon Risiken reduzieren konnten. Denken Sie nur an den asiatischen Raum, wo bereits SARS CoV 1 viel stärker verbreitet war. Die Menschen dort haben gelernt, dass Abstand halten, Maske tragen und Selbstisolation durchaus hilft, die Ausbreitung von Atemwegsinfektionen zu begrenzen. Verhindern kann man nichts, aber begrenzen.Die Omikron-Variante BA.2 ist auf dem Vormarsch. Auch im Kreis Gütersloh?Ob sie bei uns bereits vorherrschend ist, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Das Problem ist, dass nicht mehr systematisch typisiert wird. Die Typisierungen sind ja mit Inkrafttreten der neuen Bundes-Testverordnung im Februar ausgesetzt worden. Früher konnte ich genau sagen, welche Varianten auf dem Vormarsch sind. Das Instrument ist mir genommen worden, das finde ich sehr bedauerlich. Nicht alle Labore haben die Proben asserviert, sondern entsorgen sie direkt nach der Untersuchung. Wir bitten aktuell Labore, die die Proben aufheben, in Ausbruchssituationen, diese gensequenzieren zu lassen.Es heißt ja, der Subtyp sei noch ansteckender.Die Infektionszahlen sind gerade wieder auf hohem Niveau mit 2000er Inzidenzen im Land nicht nur in Köln, sondern auch in Borken, in Düren, im Rhein-Erft-Kreis. Man kann über die Bedeutung der Zahl der Neuinfektionen streiten, aber es zeigt die Infektionsdynamik. Das macht schon ein Stück nachdenklich. Letzte Woche sah es noch günstiger aus. Wir sehen hohe Infektionszahlen bei den Jüngeren, jetzt steigen sie auch wieder bei den Älteren.Wir haben im Kreis heute Infektionen in 27 stationären Pflege-Einrichtungen – 95 Mitarbeitende und 94 Bewohner sind infiziert. Und auch wenn die Infektionen bei Omikron deutlich milder verlaufen: In manchen Fällen ist es in dieser Gruppe der &bdquo;Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“ und es kommt zu Todesfällen. Aber alle blicken doch auf den 19. März, wo die meisten Einschränkungen fallen sollen.Wie oft wurde bereits von einem Freedom Day gesprochen? Ich wäre da sehr vorsichtig. Bereits jetzt sind die Clubs wieder offen. Das kann man machen. Aber man muss sich bewusst sein, was man dafür für einen Preis zahlt. Wenn ich alle Räder gleichzeitig drehe, kann ich ein System schnell überdrehen.Wie meinen Sie das?Es ist keine einfache Botschaft, die ich Ihnen mitgebe. Wir müssen uns sehr genau anschauen, wo und was wir lockern und wir müssen es mit Augenmaß machen. Wir sollten schrittweise vorgehen. Es wurde zunächst auf 3G statt 2G gesetzt. Im Freien, wo man reichlich Abstand halten kann, muss keine Maske getragen werden. Wir sollten das sukzessive weiterentwickeln.Aber es werden wieder einmal die Nachbarländer als Beispiel genommen werden: Die lockern, also müssen wir auch lockern. Das führt dann zu nachdenkenswerten Situationen, wie ich sie in Aachen erlebt habe, wo im Dezember viele Niederländer zum Einkaufen kamen, weil zuhause die Geschäfte geschlossen hatten. Umgekehrt war es übrigens genauso der Fall. Eine Pandemie hat ihre eigenen Regeln und hält sich nicht an Grenzen von Kreisen oder Ländern.Die Maskenpflicht ist ebenso auf dem Prüfstand.Das ist eine Diskussion, die uns seit Beginn der Pandemie begleitet. Als im vergangenen Jahr die Impfung kam, hieß es sofort, wozu brauchen wir dann noch die Masken? Die brauchen wir, weil die Impfung nicht zu 100 Prozent vor der Infektion schützt. Dazu kamen die neuen Varianten, die zum Teil immer infektiöser wurden. Wir sehen jetzt Infektionen auch bei den Geboosterten, aber zum Großteil bedeutend mildere Symptome. Viele hatten ja gehofft, dass mit der Impfung die Pandemie beendet wird.Sicher, die Impfungen haben uns ganz viel gebracht, wie das Beispiel der Pflegeeinrichtungen zeigt. Wir sehen dort jetzt aber bei Bewohnern wieder vermehrt Infektionen, weil teilweise die einfachen physikalischen Maßnahmen aufgegeben wurden, wo man die Maskenpflicht nicht mehr so eng sieht, wo man wieder zusammen isst, wo man vielleicht auch Karneval gefeiert hat.Es ist immer ein Balanceakt zwischen Gesundheitsschutz und Teilhabe am sozialen Leben. Wir müssen als Gesellschaft eine Diskussion darüber führen, was braucht es, damit Menschen sich wohlfühlen und das soziale Leben weitergeht und was will ich dafür in Kauf nehmen.Bundesweit ist die Inzidenz in der Altersgruppe der 5 bis 14-Jährigen am höchsten. Sind Kinder jetzt Treiber der Pandemie?Nein, Kinder sind nicht Treiber der Pandemie. Die Kinder sind diejenigen, die in der Regel keine oder geringe Symptome entwickeln. Bei der hochansteckenden Omikron-Variante waren zu Beginn die jüngeren Erwachsenen, die die meisten Sozialkontakte haben, betroffen. Danach verbreitete sich das Virus in die anderen Bevölkerungsgruppen.Auch hier gilt: Da, wo wir physikalische Möglichkeiten nicht mehr nutzen, wird das Virus auch weitergegeben. Denken Sie nur an die Aufgabe der Maskenpflicht in den Schulen nach den Herbstferien für 14 Tage – das war ein Anstieg der Infektionen mit Ansage! Wir können Infektionen nicht vermeiden, aber wir wollen sie so steuern, dass es unser Gesundheitssystem verkraften kann.Was erwarten sie für den Sommer?Ich bin kein Prophet. Aber leider hat sich meine oft etwas kritische Haltung im Nachhinein bewahrheitet. Corona ist noch nicht vorbei. Aber wir müssen lernen, damit umzugehen – so wie wir es auch seit 2020 getan haben. Damals haben wir von den Erfahrungen aus vorangegangenen Infektionswellen profitiert und konnten entsprechend handeln.Aber welche Herkulesaufgabe auf Sie zukommt, konnten Sie 2020 auch noch nicht ahnen.Natürlich nicht. Neben der nicht bekannten Infektionsdynamik hängt auch ganz viel davon ab, wie die Politik das Ganze gestaltet. Zudem hatte man ja die Gesundheitsämter – einfach aufgrund der Wahrnehmung heraus, Infektionskrankheiten gibt es nicht mehr – über viele Jahre vernachlässigt. Das soll jetzt durch den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst ein wenig korrigiert werden.Mit den ukrainischen Flüchtlingen kommt die nächste große Aufgabe auf uns zu. Die Impfquote in der Ukraine wird mit 36 Prozent angegeben. Werden die Menschen jetzt hier erstmal geimpft?Es gibt keine allgemeine Impflicht, sondern Impfangebote. Die werden wir natürlich machen und die Menschen in ihrer Sprache informieren. Das Wichtigste ist, das wir diese Menschen so schnell wie möglich im Regelsystem gesundheitlich versorgen.Die Information über die Coronaschutzimpfung erreicht bei uns offenbar auch nicht alle.Manchmal ist nur die eigene Erfahrung hilfreich. Mir wurde von Patienten berichtet, die nach einer SARS CoV 2-Infektion von der Intensivstation kommen und sagen: ,das war überhaupt kein Corona. Eine Zeit lang wurde geglaubt, der Protein-Impfstoff bringe noch einmal einen Impfschub. Wir werden nicht alle erreichen können, die Impfungen kritisch gegenüberstehen und sollten unsere Bemühungen auf die konzentrieren, die Argumenten gegenüber offen sind. Nun tritt in der kommenden Woche die einrichtungsbezogene Impfpflicht in Kraft. Was kommt da auf das Gesundheitsamt zu?Wir haben die Vorgaben durch das Gesetz, aber wir haben noch kein offizielles Meldeportal des Landes NRW zur Verfügung. Was mir Sorgen macht, ist, dass wir bundesländerspezifische Unterschiede haben. Wir leben hier an der Grenze zu Niedersachsen, wir werden riesige Diskussionen bekommen, für die Medien wird es wieder eine Menge zu berichten geben.Ich finde das sehr problematisch, denn man müsste solche Dinge einheitlich regeln. Die Einrichtungen können ab 16. 3. die Mitarbeitenden melden, die über keine Immunität verfügen. Es gibt noch einen Puffer bis Ende des Monats, dann beginnt die Betrachtung jedes Einzelfalls. Dafür brauchen Sie erfahrene Verwaltungs-Mitarbeiter und Juristen. Und Ärzte, die Atteste auf ihre Plausibilität überprüfen können.Das Gesundheitsamt ist keine Gesundheitspolizei. Wir müssen gesamtgesellschaftlich diskutieren, wie wichtig uns als Gesellschaft die Impfpflicht ist und wie die Versorgungssituation in der Pflege aussehen soll. Ab 19.3. sollen bekanntlich weitere Einschränkungen wegfallen. Aber wir wissen nicht, wie sich der Omikron-Typ BA.2 entwickelt. Wir werden das genau beobachten und auf dieser Basis müssen dann Entscheidungen getroffen werden.

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