Warum Autofahrer pöbeln und rasen - Verkehrspsychologe fordert Tempolimit

Gütersloher Fahrschulen beklagen, dass Aggressionen im Straßenverkehr zu ihrem Alltag gehöre. Ist das inzwischen ein Dauerzustand auf unseren Straßen? Michael Bogus: Das ist ein schleichender Prozess in den vergangenen zehn Jahren, bei dem mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Einer ist der sogenannte Crowding-Effekt. Das heißt auf den Straßen haben wir mehr Verkehr, das führt zu mehr Enge in den Städten. Drei große Parteien aus Autofahrern, Radlern und Fußgängern müssen sich den begrenzten Raum teilen. Das führt zu Spannungen und Konflikten. Was befördert diese Entwicklung noch? Bogus: Die zunehmende Verunsicherung der Menschen in unserer Leistungsgesellschaft. Immer mehr fragen sich, wo führt mich mein Weg hin. Hinzu kommen Druck, Stress, Verdichtung von Arbeit, immer stärker geforderte Flexibilität. Das führt zu einem andauernden Erregungszustand, da ist die Straße natürlich auch der Ort, wo sich das im Verhalten zeigt. Warum sind die Menschen besonders im Straßenverkehr so unbeherrscht und rüpelhaft? Bogus: Im Straßenverkehr ist meist die Anonymität gewahrt. Da steht mir der andere nicht direkt gegenüber, da sind zehn Meter Abstand und Blech dazwischen und Geschwindigkeit. Da kann ich den anderen unmittelbar angehen, ohne dass ich direkt Konsequenzen erleben muss. Wenn ich jemanden provoziere, habe ich nicht gleich, um es mal ganz salopp zu sagen, eine Faust im Gesicht. Es verführt mich dazu, die Grenzen der Fairness zu überschreiten. Das erinnert an das Verhalten in den sozialen Netzwerken. Bogus: Absolut. Da ist die Anonymität noch extremer, weil ich die Leute nicht sehe. Das ist eine Folge der letzten 15 Jahre, das würde ich tatsächlich auf den Verkehr übertragen. In den sozialen Netzwerken zeigt sich der Bodensatz. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Und durch Corona werden sich in Zukunft weiter unsere zwischenmenschlichen Beziehungen verändern wie aktuell durch social distancing. Die Folgen sind noch nicht absehbar, aber die Anzeichen sind da. Welches Fehlverhalten ist besonders häufig? Bogus: Paragraf 1 der Straßenverkehrsordnung "Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht" ist außer Kraft gesetzt. Das Recht des Stärkeren herrscht, sei es, wenn es zum Beispiel um einen Parkplatz geht oder wenn einzelne Fahrradfahrer in Städten Fußgänger und Autofahrer nötigen. Ich nehme mir die Freiheit raus, da wo es irgendwie geht und das ist dann mein kleiner Sieg. Ansonsten fühle ich mich eingezwängt, ohnmächtig und an kleinen Stellen zeigt sich dann der Impuls, sich ein Recht rauszunehmen. Die Leute meinen damit niemanden persönlich. Im Gegenteil ist es ja die Anonymität, der andere ist kein Mensch, sondern ein anderer Verkehrsteilnehmer, der mir im Weg ist, mich blockiert, mir etwas streitig macht. Auf der Autobahn sind es diejenigen, die Auffahren oder sogar Ausbremsen, das ist dann schon extremer. Die die Auffahren mit Lichthupe sind oft eher die Getriebenen, da will ich nicht mal unterstellen, dass die was Böses wollen, die wollen einfach freie Fahrt haben. Jemanden überholen, um sich dann eng vor den anderen zu setzen, ist hingegen schon sehr gefährlich. Wir nennen solche Autofahrer "Verkehrsgefährder". Welche Möglichkeiten gibt es, dagegen vorzugehen? Bogus: Das meiste wird nicht angezeigt. Man muss schon zu zweit sein und sich die Mühe machen, zur nächsten Polizeistation zu fahren. Gefühlt würde ich sagen, macht das nur ein Prozent. Im Prinzip müssten Sie jemanden anzeigen wegen Nötigung und das zieht einen Rattenschwanz an Bürokratie nach sich, das stößt alle ab. Stellen Sie sich vor, sie werden auf der Autobahn genötigt, dann sind Sie erst sauer, aber auch erleichtert, dass nichts passiert ist. Psychologisch sind wir so gepolt, dass wir uns durch so einen Idioten nicht den Tag verderben lassen wollen. Fährt man dagegen zur Polizei, kostet das mindestens eine Stunde oder mehr und wenn es dann weitergeht, gibt es noch Zeugenaussagen und so weiter. Und Sie werden immer wieder daran erinnert. Und das wollen wir nicht. Deshalb werden die Leute nicht angezeigt. Was müsste sich ändern? Bogus: Da müsste man sehr komplex rangehen. Es sollte in der Schule Mobilitätsunterricht geben. Mit zehn, elf Jahren sollte jeder lernen, dass der Verkehr unsere größte soziale Veranstaltung ist, ob Autobahn oder Fußweg. Da zeigt sich, wie wir als Gesellschaft miteinander leben wollen. Zweite Sache ist, wir brauchen in Deutschland unbedingt ein Tempolimit. Ich sehe an vielen anderen Ländern, wenn das Tempo auf 130 beschränkt ist, haben wir in zehn Jahren ein anderes Bewusstsein. Wenn alle die Erfahrung machen, es fährt keiner schneller als 130, dann verändert sich meine Wahrnehmung von Geschwindigkeit. Wenn klar ist, es geht nicht schneller als der vor mir, dann muss ich ihn auch nicht mehr überholen. Alle Statistiken zeigen, es ist nicht nur gut für die Umwelt, es gibt auch weniger Unfälle und es führt bei den meisten zu einer Entstressung. Wenn sie das mal erlebt haben auf der österreichischen Autobahn, sie tun den Tempomat rein und gleiten dahin. Wenn wir das alle machen, kommen wir viel entstresster an und verlieren keine Zeit. Die Schiene, ich muss den anderen überholen, ausbremsen, hätten wir damit schon mal verändert. Welche Rolle spielt Corona? Bogus: Es könnte sein, dass Corona einerseits ein Beschleuniger zur Entspannung ist. Man muss nicht mehr jede Fahrt machen. Die Straßen würden leerer sein, es bräuchte nicht mehr so viele Parkplätze, die Leute steigen vielleicht um aufs Fahrrad. Andrerseits steht die Gesellschaft durch Corona unter massiver Anspannung. Viele Bevölkerungsschichten stehen unter Dauerdruck, ob es um ihre Existenz geht oder die Verbote. Das entlädt sich bei dem ein oder anderen sicher auch im Straßenverkehr. Daher ist das Thema aggressives Verhalten auf den Straßen derzeit besonders aktuell und wird es wohl auch noch bleiben. Der TÜV Nord bietet ja auch in Gütersloh MPU-Vorbereitungskurse an. Wie ist hier die Entwicklung? Bogus: Von 53 Millionen registrierten Führerscheinen und geschätzten 32 Millionen Autofahrern, sind es nur 3.800, die pro Jahr wegen ihres Fahrverhaltens zur MPU müssen. Das ist eine absolute Negativauslese. Die das betrifft, die fahren jeden Tag jederzeit zu schnell. Wenn die zu uns zur Beratung kommen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sie sind durch den Entzug wach geworden oder sie zeigen sich erstmal völlig unbeeindruckt und widerständlich und dann muss man sie darüber informieren, dass sie durch die MPU quasi zu ihrem Glück gezwungen werden. Denn ohne Verkehrstherapie haben die Leute zurecht keine Chance, ihren Führerschein wiederzukriegen. Diese Gruppe der Verkehrsgefährder hat wirklich ein Problem, das sich auf der Straße äußert. Das Problem liegt aber in ihrer Persönlichkeit. Es ist ja so, dass die sich ja schließlich mal zusammengerissen haben, um den Führerschein zu bekommen. Danach gehen dann bei einigen die Pferde durch und das wird dann zur täglichen Gewohnheit. Gibt es bereits gute Ansätze? Bogus: Begleitetes Fahren mit 17 war eine der besten und innovativsten Sachen. Denn hier gibt es eine Positivauslese. Wer ein Jahr lang sich von einer Autoritätsperson begleiten lässt, der bekommt eine ganz andere Prägung, als wenn ich mit 18 gleich alleine am Steuer sitze. Es gab mal Bestrebungen, das aufzuweichen, doch wenn ein älterer Kumpel auf dem Beifahrer sitzt, bringt das nichts. Pöbeln und Drängeln im Straßenverkehr ist typisch Mann, oder? Bogus: Da gebe ich Ihnen absolut recht. Es gibt aber auch meines Erachtens immer mehr Frauen, die schneller fahren. Tatsächlich ist aber der Anteil derjenigen, die da drängeln, geringer. Das ist klar eine männliche Domäne. Und bei den Frauen reicht das Alter bis 30. Ab 30 hab ich das noch nie erlebt. Mit Blick auf die Zukunft könnte autonomes Fahren doch helfen? Bogus: Die Technik ist bereits sehr weit, da könnte man nächstes Jahr schon fahren. Verzögert wird es durch die Infrastruktur und Versicherungsfragen. Bei der Infrastruktur, weil wir ganz viel Mischverkehr haben. Autonomes fahren funktioniert nur, wenn das Auto erkennt, ob der andere auch autonom fährt oder nicht. Deshalb müsste man auf den Straßen extra Spuren einrichten. Und wir schaffen es ja jetzt schon nicht auch nur unsere Brücken zu sanieren. Und wer kommt im Schadensfall auf, wenn die Technik versagt? Es geht aber dahin, dass die bereits bestehenden Assistenzsysteme in Neuwagen etabliert werden. Die steuern die Geschwindigkeit und den Abstand aus, da gehe ich davon aus, dass das in den nächsten zehn Jahren bei den meisten Neuwagen kommen wird. So wie es in Schweden schon ist mit Tempolimit und Alkoholkontrolle. Sprich Sie kaufen sich ein Auto mit Assistenzsystem und das Auto ist dann mächtiger als Sie. Das System erkennt, dass da 130 ist und fährt einfach nicht schneller. Natürlich müssen Sie noch in der Lage sein, einzugreifen. Das wäre halbautonomes Fahren. Das Tempolimit wird so auf mittelfristige Zeit auf jeden Fall kommen.

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