Gütersloher Jurist: Opferschutz kommt bei Prozessen um Vergewaltigungen zu kurz

Gütersloh. Vor dem Düsseldorfer Landgericht müssen sich zurzeit mehrere Jugendliche wegen einer mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung verantworten. Der Fall in Mülheim hatte im Sommer 2019 bundesweit Entsetzen ausgelöst und erinnert an den Prozess gegen neun junge Männer, denen in Harsewinkel eine ähnliche Tat vorgeworfen worden war. Im Laufe des Verfahrens hatte sich die Beweislage jedoch unerwartet gedreht und die Angeklagten konnten das Bielefelder Landgericht straffrei verlassen.Dass die Verhandlung trotz des jugendlichen Alters des Opfers in weiten Teilen öffentlich war, sorgte bei vielen Menschen für Empörung. &bdquo;Wo bleibt da der Opferschutz?", fragen sich auch der Gütersloher Jurist Reinhard Kollmeyer, der bis 2012 Vorsitzender einer Jugendschutzkammer am Bielefelder Landgericht war und heute als Richter am Oberlandesgericht Hamm tätig ist, und die Anwältin Kathrin Baumhus, die als Vorsitzende der Außenstelle Gütersloh für den Weißen Ring spricht. Frau Baumhus, was erwartet ein Mädchen, das eine Sexualstraftat anzeigt, im weiteren Verlauf des Verfahrens?KATHRIN BAUMHUS: Zunächst ist da die Entscheidung: Erstatte ich Strafanzeige gegen den Täter, ja oder nein? Das ist bei Sexualstrafverfahren eine besonders schwierige Entscheidung, es ist generell ein schwieriges Thema. Denn was dann folgt, kann sehr unangenehm werden. Zunächst eine unter Umständen stundenlange Vernehmung durch die Polizei sowie die gynäkologische Untersuchung und Spurensicherung. Außerdem wird im Ermittlungsverfahren auch dem Beschuldigten Gehör gewährt, was ja gut und richtig ist. Aber wenn dann Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Opfers kommen oder sich in einer Nachvernehmung, in der manche Details vielleicht leicht anders geschildert werden, ergeben, gibt es gegebenenfalls ein Gutachten zur Glaubwürdigkeit des Opfers. Dann geht es zum ersten Mal kritisch um die Frage, ob das Opfer vielleicht lügt. Diesem Vorwurf muss es sich immer wieder stellen. Es wird also unserem Empfinden nach alleine durch die Maßnahmen im Strafverfahren sehr stark stigmatisiert. Muss man einem solchen Verdacht nicht nachgehen?BAUMHUS: Dass sich die Staatsanwaltschaft wie auch das Gericht natürlich davon überzeugen müssen, dass das Opfer nicht lügt, steht völlig außer Frage und ist richtig. Denn es gibt mit Sicherheit auch Opfer, die gelogen haben oder Opfer, die gar keine waren und andere Ziele verfolgt haben. Es gibt aber auch sehr viele andere Frauen, die durch die Tat traumatisiert sind und durch das Prozedere im Nachgang nochmals und ungleich mehr traumatisiert werden. Welche Hürden haben Opfer sonst noch zu erwarten?BAUMHUS: Da ist zum einen die geringe Aufklärungsquote. Der weit überwiegende Teil der Sexualstrafverfahren wird eingestellt, weil sie nicht beweisbar sind. Weil vielleicht die körperlichen Verletzungen fehlen und der Täter behauptet, alles sei einvernehmlich geschehen – das alles bedeutet eine große Hürde, um dieses Strafverfahren überhaupt einzuleiten. Und früher oder später kommt natürlich die Frage: Wie ist das denn dann, wenn es zum Gerichtstermin kommt? Muss ich dann da aussagen? – Ja! Ist der Täter dabei? – Ja! Sind da auch Zuhörer dabei? – Ja! Und da sagen dann viele Opfer, dass sie das lieber nicht möchten. Aber wenn es um jugendliche Opfer geht, haben wir bislang in den meisten Situationen versprechen können: Da gilt ein besonderer Schutz, aufgrund des Alters und des sensiblen Themas. Und dieser Schutz des Opfers geht immer über das Informationsrecht der Öffentlichkeit hinaus. Was sollen wir solchen Menschen in Zukunft sagen? Das ist die Frage, die uns nach diesem Prozess um den Fall in Harsewinkel sehr beschäftigt. Ist das ein Trend in der Justiz, dass der Schutz der Privatsphäre bei minderjährigen Opfern vernachlässigt wird?REINHARD KOLLMEYER: Einen solchen Trend kann ich nicht beobachten. Ich möchte aber Folgendes ergänzen: Wenn es für ein Opfer verlässlich sein soll, dass es in einem geschützten Rahmen vernommen wird, dann muss sich diese Verlässlichkeit auch darauf erstrecken, dass nicht andere Zeugen befragt werden zu Umständen, die der Beweisperson besonders unangenehm sind. Wenn ich also Fragen aus dem Intimbereich an eine Opferzeugin stelle und sie antwortet darauf im Glauben, dass sie in einem geschützten Rahmen ist, dann ist es nicht in Ordnung, das gleiche Thema mit anderen Zeugen öffentlich zu besprechen. Denn dann wird die Privatsphäre quasi durch die Hintertür doch wieder erheblich verletzt. Das war in diesem Verfahren der Fall. Und wenn die Aussagen widersprüchlich sind?KOLLMEYER: Ob ich jemandem Opferschutz gewähre oder nicht, ist erst einmal unabhängig davon, ob diese Person die Wahrheit sagt oder nicht. Es geht darum, einen geschützten Rahmen zu finden, in dem jemand überhaupt bereit ist, zu reden. Es geht da um sehr persönliche Dinge, von denen jeder von uns nicht wollen würde, dass in der Öffentlichkeit darüber gesprochen wird. Und es gibt auch viele gute Gründe, warum Leute erstmal nicht auf alle Fragen die Wahrheit sagen, das weiß ich aus meiner eigenen beruflichen Praxis. Sei es, weil es einem besonders unangenehm ist oder weil man vielleicht denkt: Wenn ich das jetzt erzähle, dann glaubt mir später keiner mehr, etwa dass ich bestimmte Sachen nicht gewollt habe.BAUMHUS: Und am Ende dieses langen Weges steht dann vielleicht das Fazit: Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich erst gar nicht Anzeige erstattet – weil es das kleinere Übel gewesen wäre. Wenn wir den Opfern nicht einmal mehr die Sicherheit geben können, in einem geschützten Umfeld auszusagen, macht das diese Entscheidung in Zukunft noch schwerer. Müssten diese Verhandlungen nicht grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden?KOLLMEYER: Die Frage ist, was genau öffentlich verhandelt wird. Im Grundsatz ist es ja schon richtig, dass Verhandlungen öffentlich stattfinden, das sieht das Gerichtsverfassungsgesetz so vor. Aber zum Schutz der Privatsphäre sieht der Gesetzgeber auch vor, dass in relevanten Teilen die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Die Möglichkeiten des Gerichts, die Öffentlichkeit auszuschließen, sind sehr breit gefächert. Es kann sehr großzügig Gebrauch davon machen und diese Entscheidungen sind nicht anfechtbar, auch nicht im Revisionsverfahren. Was könnte dann im öffentlichen Teil eines Vergewaltigungsprozesses übrig bleiben?KOLLMEYER: Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit an tatbezogenen Umständen, was also die Aufklärung der Tat als solche angeht, ist als relativ hoch anzusehen. Aber wenn es um Tatdetails geht, kann wiederum das Zeugenschutzinteresse überwiegen. Und wenn es beispielsweise um sexuelle Vorerfahrungen oder Vorlieben des Opfers geht, hat das absolut nichts in der Öffentlichkeit zu suchen. Dann kann es tatsächlich sein, dass nichts übrig bleibt, was man öffentlich machen sollte. Noch einmal: Opferschutz und die Wahrung der Intimsphäre dürfen nicht davon abhängig sein, ob ein Zeuge gelogen hat oder nicht. Wie reagieren die Betroffenen, wenn ähnliche Fälle wie der eigene öffentlich werden?BAUMHUS: Viele haben Angst, dass ihre Identität in der Berichterstattung nicht unbedingt gewahrt wird, dass sie also auf der Straße erkannt werden. In den allermeisten Fällen ermutigen wir die Mädchen und Frauen trotzdem, ein Strafverfahren einzuleiten. Im Grunde wollen sie das auch. Sie wollen das Endergebnis der Bestrafung, aber nicht unbedingt den Weg dorthin auf sich nehmen. Einen Weg, den sich viele vielleicht einfacher vorstellen, als er am Ende ist. Ich glaube, dass die meisten, die zu uns in die Beratung kommen, keine konkrete Vorstellung haben von diesem Weg, der auf sie wartet.KOLLMEYER: Es geht um die elementare Frage: Wie geht man damit um, wenn persönliche Dinge in der Hauptverhandlung erörtert werden? Und wie verlässlich ist der Schutz der Opferzeugen während des gesamten Verfahrens – auch für den Fall, dass vielleicht der Verdacht entsteht, man könnte in einer Frage die Unwahrheit gesagt haben. Wenn das nicht gewährleistet ist, wird sich aus meiner Sicht kaum jemand mehr trauen, vor Gericht zu gehen. Wie könnte man diese Verlässlichkeit erreichen?BAUMHUS: Ich würde es sehr begrüßen, wenn sich alle Beteiligte dieser Strafverfahren – auch die psychosozialen Berater und die Polizei – an einen Tisch setzen, um sich auszutauschen und zu versuchen, auch die Sicht des anderen einzunehmen. Und dass alle etwas mehr Weitsicht im Hinblick auf die Situation des Opfers entwickeln. KOLLMEYER: Eine solche Gesprächsrunde gab es im Kreis Gütersloh früher schon einmal, wo sich regelmäßig Mitarbeiter von Beratungsstellen, Gericht und Polizei zusammengesetzt haben, um Verfahrensabläufe transparent, verständlich und verlässlich zu machen. Dieser Arbeitskreis &bdquo;Justitia" war eine gute Sache und sehr hilfreich – für die Wahrheitsfindung und auch für den Opferschutz, weil hier die Verlässlichkeit besonders wichtig ist. Meine Erfahrung ist nämlich: Das Schlimme für Opferzeugen ist nicht die Hauptverhandlung, sondern das Warten darauf. Das ist eine belastende Situation und das kann man ein Stück rausnehmen, wenn man Verlässlichkeit schafft.

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