Gütersloh

„Inklusionskinder werden ausgegrenzt“: Gütersloher Mutter berichtet von ihrer Odyssee

Vor zehn Jahren wurde das Recht auf Gemeinsames Lernen behinderter und nicht behinderter Kinder gesetzlich verankert - die Praxis stellt jedoch viele Familien vor Probleme

Theodora Tassikas geht gerne zur Schule. Ihre Eltern hätten sich aber mehr Unterstützung gewünscht. | © Andreas Frücht

27.03.2019 | 27.03.2019, 10:39

Gütersloh. Wenn es kaum belastbare Zahlen gibt, Mitarbeiter aus Ämtern nicht zitiert werden möchten und Betroffene aus Angst vor Repressalien anonym bleiben wollen, ist meistens irgendwas faul. Zum Beispiel beim Thema Inklusion: Seit zehn Jahren haben Kinder mit Behinderung den Rechtsanspruch, gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung zur Schule zu gehen. Offiziell alles schön und gut, doch hinter den Kulissen knirscht und kracht es offenbar gewaltig, besonders im Offenen Ganztag der Grundschulen (OGS).

Weil dort das Recht auf Inklusion nach Meinung von Behörden, Ministerien und Trägern auch in Gütersloh pünktlich mit Unterrichtsschluss endet, stehen viele Eltern vor massiven Problemen. Die Situation vor Ort ist nicht besser als im Rest von Nordrhein-Westfalen, denn die Gestaltung und Umsetzung des Rechtsanspruchs ist Ländersache. Wie so häufig, geht es ums Geld. Um viel Geld.

Eine Mutter berichtet von ihrer Odyssee

Ausbaden müssen es am Ende die betroffenen Kinder und Eltern. Da ist zum Beispiel eine Mutter aus Gütersloh, die zurzeit einen Grundschulplatz für ihren körperbehinderten Sohn sucht. Weil die Odyssee noch nicht abgeschlossen ist, möchte sie ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. „Die Ungewissheit ist für uns eine zusätzliche Belastung. Wir müssen uns ohnehin schon überall durchboxen, die Schule ist jetzt wieder ein ganz neuer Schritt. Es gibt jedoch keine zentrale Anlaufstelle in Gütersloh, bei der man sich informieren kann", sagt sie.

Für die Eltern gibt es auf dem Weg zur Inklusion einige bürokratische Hürden. Braucht ein behindertes Kind individuelle Unterstützung im Schulalltag, bekommt es einen persönlichen Schulassistenten, so will es das Gesetz. Im Fall einer Körperbehinderung wird die Schulbegleitung beim Sozialamt, für seelische Behinderungen wie Autismus hingegen beim Jugendamt beantragt, die auch die Kosten übernehmen müssen.

Festgestellt wird der Bedarf in einem komplizierten Verfahren, das sich lange hinziehen kann. So berichten Eltern, dass sie den Bescheid für das Schuljahr nach den Sommerferien erst im Juni bekommen haben. Dann geht es an eine der 14 von insgesamt 17 Grundschulen im Kreis Gütersloh, die „Schulen des Gemeinsamen Lernens" sind – aber an welche und vor allem: wie lange?

In vielen Schulen fehlen die Voraussetzungen

„Die für uns nächste Grundschule Gemeinsamen Lernens wäre nur fünf Minuten von zu Hause entfernt, verfügt aber nicht über die räumlichen Voraussetzungen für den Rollstuhl und den pflegerischen Bedarf meines Sohnes", berichtet die Mutter. Jetzt wartet sie auf die Antwort einer anderen Schule, die jedoch 20 Minuten Fahrzeit entfernt liegt.

Der Junge, nennen wir ihn Max, hat geringe Entwicklungsverzögerungen und motorische Einschränkungen. „Wir wollen unbedingt, dass er eine Regelschule besucht, denn was wäre die Alternative? Mit einem Förderschulabschluss würde er später höchstens in einer Behindertenwerkstatt arbeiten können – aber er ist doch geistig fit!" Und während Max bislang auch nachmittags eine Inklusionskita besucht, wird er mit dem Wechsel zur Grundschule um 12.30 Uhr nach Hause geschickt.

„Uns wurde bereits bei der Anmeldung gesagt, dass wir noch nicht einmal für die Randstunden auf die Genehmigung einer Integrationshilfe hoffen sollen, von der Nachmittagsbetreuung ganz zu schweigen", sagt seine Mutter, für die eine Berufstätigkeit damit praktisch ausgeschlossen ist. Und da Max nicht in seiner Nachbarschaft zur Schule gehen kann, wird ohne OGS-Betreuung auch der Kontakt zu Schulfreunden erschwert.

Eine Elterninitiative berät die Familien

„Die Nichtbewilligung der Schulbegleitung in OGS und Randstunden führt zu sozialen Problemen für das Kind und zu Betreuungsproblemen für die Eltern", bringt es Romy Suhr auf den Punkt. „Die Inklusionskinder werden ausgeschlossen." Die Bielefelderin hat vor zwei Jahren den Verein „Die Inklusiven" gegründet, der mittlerweile Eltern in ganz OWL berät und unterstützt – auch wenn sie, wie aktuell in zwei Fällen in Bielefeld, ihren Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung einklagen wollen.

Da es in nordrhein-westfälischen Grundschulen keinen gebundenen, sondern nur den Offenen Ganztag in unterschiedlicher freier Trägerschaft gibt, ist die Frage, ob der Anspruch auf einen Schulbegleiter auch für die Angebote der OGS besteht, seit Jahren rechtlich umstritten. „Die Städte wollen sich drücken. Sie ziehen sich aus der Verantwortung, um Geld zu sparen – auf dem Rücken der Schwächsten.

Einerseits sagen sie als Schulträger, die OGS sei ein pädagogisches Angebot und erfülle gesetzestreu ihren Bildungsauftrag, andererseits argumentieren die Sozialämter, die Nachmittagsbetreuung sei eine Aufbewahrung und Assistenzbedarf deshalb Privatsache." Zuletzt hatte das Bundessozialgericht zugunsten zweier zwölfjähriger Jungen aus Bielefeld mit Down-Syndrom entschieden, deren Familien von Suhrs Verein in dem langjährigen Rechtsstreit unterstützt wurden. „Aber für Eltern von Kindern mit Behinderung ist der Kampf um Gutachten und Bescheide eine zusätzliche Belastung. Den meisten fehlen Kraft und Wissen, um ihre Rechte juristisch durchzusetzen."

Stadtschulpflegschaft: System aus einem Guss

Auch die Gütersloher Stadtschulpflegschaft beobachtet die Entwicklung mit Sorge. „Die Probleme kommen mit der Grundschule, da gibt es nach der Kita eine klare Lücke und kaum Informationen", sagt Ingo Krüger. „Das System müsste aus einem Guss sein und sollte vor allem das Wohl des Kindes im Blick behalten." Die Grundschulen müssten für Kinder mit besonderen Einschränkungen grundsätzlich anders ausgestattet werden, so Krüger weiter. „Und auch die Stellenpläne sind oft nur Theorie."

In vielen Schulen Gemeinsamen Lernens fehlten Sonderpädagogen, das führe zu Doppelbelastungen bei den Lehrern. Für Krüger steht es außer Frage, dass die OGS eine schulische Maßnahme ist – „schließlich wurden auch die verbindlichen Abholzeiten für alle anderen Eltern am Nachmittag mit dem Bildungsauftrag begründet". Sie sollten verhindern, dass Kinder auch mal früher abgeholt werden, wenn die Eltern es zeitlich einrichten können.

Wie Familie Tassikas mit der Situation umgeht

Auch Familie Tassikas hat ihre Erfahrungen mit der Inklusion gemacht. „Wir hätten uns mehr Unterstützung gewünscht. Aber wir sind froh, dass es diese Möglichkeit gibt", sagen die Eltern von Theodora, die genauso alt ist wie das Recht auf Gemeinsames Lernen und mit dem Down-Syndrom zur Welt kam. Zurzeit besucht sie die vierte Klasse der Grundschule Heidewald, wo sie während des Unterrichts, 15 Minuten vor- und hinterher sowie in den Pausen von einer persönlichen Schulassistentin begleitet wird.

Nach den Sommerferien wechselt sie auf die Gesamtschule. Theodora ist ein aufgewecktes Mädchen, sie kann gut lesen und schreiben und fragt man sie nach ihrem Lieblingsfach, sagt sie: „Alles, außer Mathe." Wie für Kinder mit Down-Syndrom typisch, braucht sie manchmal etwas länger. Auch für sie wurde die Betreuungsassistenz nur für den Vormittag genehmigt.

„Für uns funktioniert die Inklusion gut, weil wir relativ gute Bedingungen haben", sagt Pia Hauertmann-Tassikas. Die niedergelassene Ärztin hat ihre Praxis ebenso im Haus wie ihr Mann Dimitrios sein Atelier für individuelle Badkonzepte. „Nach Theodoras Geburt habe ich mich selbstständig gemacht, weil ich flexibel in meiner Zeiteinteilung sein wollte. Mir war klar: Ich muss für das Kind da sein", sagt ihr Vater. Während es in der Schule und im Klassenverband gut läuft, sind die sozialen Kontakte von Theodora nach Schulschluss jedoch begrenzt. „Sie wird nicht so oft zu Kindergeburtstagen eingeladen." Aber das liege eher an den Erwachsenen.

Förderschulen sind ausgelastet

Bei immer mehr Eltern führt der Inklusionsdruck offenbar dazu, sich für den alten Weg zu entscheiden. Ende Januar wurde im Kreisschulausschuss bekannt gegeben, dass an den fünf Förderschulen des Kreises rund 50 Prozent mehr Schüler angemeldet wurden als prognostiziert. Dass die Kapazitätsgrenzen „ausgeschöpft" sind, ist ein Indiz dafür, dass sich die Inklusion nicht so durchgesetzt hat, wie es ursprünglich erwartet worden war – oder, dass sich die Eltern aus organisatorischen Gründen für den vermeintlich leichteren Weg entscheiden.

„Und dann wachen sie auf, wenn die Schulpflicht endet. Sie konnten zwar bis dahin berufstätig bleiben, aber wenn die Kinder dann groß sind und gesellschaftlich nicht befähigt, fällt den Eltern das später auf die Füße", sagt Romy Suhr. Für Familie Tassikas war eine Förderschule für Theodora deshalb nie eine Alternative. „Wir wollen, dass sie später so selbstständig wie möglich leben und arbeiten kann."