Aufarbeitung beginnt

Sexueller Missbrauch durch Bielefelder Kirchendiakon: Betroffene und Zeugen gesucht

Ein Jugendbetreuer soll Jungs angefasst haben. Ein Berliner Institut ruft nun Betroffene und Zeugen der Gemeinde aus den Jahren 2000 bis 2021 auf, sich zu melden.

Johanna Hess und Malte Täubrich vom Dissens-Institut leiten die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in Bielefeld. | © Andreas Zobe

18.11.2025 | 18.11.2025, 10:11

Bielefeld. Sie haben die Aufgabe, bis zum Sommer 2027 die Umstände eines jahrelangen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen im Umfeld der evangelischen Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde aufzuarbeiten und mögliche tatbegünstigenden Strukturen zu identifizieren. Um dies mit aller Sorgfalt tun zu können, rufen Johanna Hess und Malte Täubrich vom Berliner Dissens-Institut für Bildung und Forschung ab sofort alle Betroffenen und Zeugen zur Teilnahme an der Aufarbeitungsstudie auf.

Wie berichtet, hatte ein inzwischen gekündigter Jugenddiakon der Gemeinde in den Jahren 2005 bis 2011 mehrere Jungen im Alter von 14 bis 17 Jahren in einem sogenannten Inner Circle zu wiederkehrenden Nackt-Treffen eingeladen und diese dann bei verschiedenen Gelegenheiten mit dem Ziel sexueller Befriedigung angefasst.

Das Gericht, das den Diakon deshalb im Juni 2025 zu einem Jahr und elf Monaten Haft auf Bewährung verurteilte, warf ihm schließlich „sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener“ und „sexuellen Missbrauch Jugendlicher“ vor. Der Diakon gestand die vorgeworfenen Taten und entging damit einer möglichen Strafe hinter Gittern.

Aufarbeitung des Missbrauchsfalles in Bielefeld

Nach Abschluss des Strafprozesses hat der Evangelische Kirchenkreis Bielefeld das Dissens-Institut nun mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Falles beauftragt. Anfang Oktober haben Geschäftsführer Malte Täubrich und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Johanna Hess, die schon den Gerichtsprozess in Bielefeld verfolgt hatte, ihre Arbeit aufgenommen.

Der Podcast zum Fall: Erschütterung in Bielefeld: Sexueller Missbrauch unter den Augen der Kirche

Sie wollen dabei die Art und das Ausmaß der sexualisierten Gewalt ergründen, wollen den Umgang mit den Betroffenen und dem Täter analysieren, suchen nach Mitwissern und tatbegünstigenden Strukturen in der Gemeinde, die die Aufdeckung der Taten erschwert haben könnten.

Interview-Aufruf für Betroffene und Zeugen in Bielefeld

Wesentlicher Bestandteil dieser Aufarbeitung sind Interviews (auf Wunsch auch anonym) mit dem Täter, den Betroffenen, Verantwortlichen der Gemeinde und des Kirchenkreises sowie allen möglichen Zeugen aus der Zeit von 2000 bis 2021. Dies ist die Zeitspanne, in der der Jugenddiakon in der Gemeinde tätig war. Die Staatsanwaltschaft konzentrierte sich in ihrer Anklage auf die Jahre 2005 bis 2011.

Die promovierte Politikwissenschaftlerin und Diplom-Soziologin Jana Hess spricht nach den ersten Eindrücken von einem Hellfeld und einem Dunkelfeld: „Nicht alle Betroffenen offenbaren sich gegenüber der Kirche oder gehen zur Polizei: Wir gehen stark davon aus, dass es mehr als sieben Opfer gegeben hat.“

Wegen sexuellen Missbrauchs von schutzbefohlenen Jugendlichen wurde der ehemalige Jugenddiakon der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde (hier mit Strafverteidiger Carsten Ernst, l.) verurteilt. - © Andreas Zobe
Wegen sexuellen Missbrauchs von schutzbefohlenen Jugendlichen wurde der ehemalige Jugenddiakon der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde (hier mit Strafverteidiger Carsten Ernst, l.) verurteilt. | © Andreas Zobe

Zur Aufarbeitung werden zwar auch die vorhandenen Akten der Kirche geprüft, im Mittelpunkt stehen aber die Interviews: „Die Studie ist auf die Auskunftsbereitschaft von Betroffenen und Zeuginnen und Zeugen angewiesen“, betont Täubrich.

Diese Kirchenmitglieder kommen als Zeugen infrage

„Deshalb bitten wir alle, die Auskunft zu sexualisierter Gewalt im Bereich des Kirchenkreises Bielefeld und der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde geben können, sich zu melden.“ Dazu gehörten auch diejenigen, die von den Übergriffen nur „berichtet bekommen haben“, oder diejenigen, die in dem Zeitraum in der Gemeinde oder im Kirchenkreis beschäftigt waren (Kuratorium, Presbyterium, Jugendreferat).

Die Betroffenen der Taten sprechen in einem Statement von einem Versagen beim Jugendschutz und von einem „Umfeld, das dem Täter Vertrauen schenkte oder wegsah“: Die sexualisierte Gewalt in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde habe bei den Betroffenen „schwere, seelische Wunden“ hinterlassen. „Jahrelang hat der Jugenddiakon die Grenzen unserer Selbstbestimmung überschritten und uns in unserer Würde verletzt. Bis heute sind wir fassungslos, traurig und zornig.“

Dass die Kirche diesen Missbrauch nicht verschweigt, sondern anerkennt und durch ein unabhängiges Institut aufarbeiten lässt, sei das Ergebnis eines langen Kampfes gewesen. „Wir begrüßen daher die Aufarbeitungsstudie: Wir wollen verstehen, was passiert ist, wie der Täter vorgegangen ist und warum uns niemand geschützt hat.“

Christian Bald, Superintendent des Kirchenkreises Bielefeld, und Nora Göbel, Pfarrerin der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde, gehören auch dem Expertengremium an, das die Studie begleitet. - © Andreas Zobe
Christian Bald, Superintendent des Kirchenkreises Bielefeld, und Nora Göbel, Pfarrerin der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde, gehören auch dem Expertengremium an, das die Studie begleitet. | © Andreas Zobe

Kirchenkreis als Auftraggeber sei keine Einschränkung

Dass der Kirchenkreis Auftraggeber der Studie ist, sieht Täubrich nicht als Einschränkung seiner Unabhängigkeit: „Wir werden alle Ergebnisse veröffentlichen, der Auftraggeber hat keine Veto-Möglichkeit. Dies ist keine Auftragsforschung“, betont der Dissens-Geschäftsführer.

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Dennoch gehören einem begleitenden Expertengremium nicht nur Betroffene der Taten und wissenschaftliche Experten an, sondern auch drei Vertreter der Evangelischen Kirche: Bielefelds Superintendent Christian Bald, Gemeindepfarrerin Nora Göbel und Charlotte Nieße vom Landeskirchenamt, „Beauftragte für den Umgang mit Verletzten der sexuellen Selbstbestimmung“.

Bielefelder Kirchenkreis bietet Unterstützung für Betroffene an

Gemeindepfarrerin Nora Göbel betont, dass Betroffene, die sich bisher nicht gemeldet haben, ausdrücklich ermutigt werden sollen, sich an der Studie zu beteiligen: „Uns ist wichtig, dass alle, die Übergriffe erlebt haben, Unterstützungsangebote bekommen, um das Erlebte zu verarbeiten.“

Hilfsangebote könnten mit den Interviews verbunden werden, stehen aber auch unabhängig zur Studie bereit. Superintendent Christian Bald ruft ausdrücklich zur Teilnahme auf: „Wir wollen aus den Erfahrungen lernen, Schwächen der Organisationsstruktur erkennen, Risiken identifizieren und weitestgehend minimieren.“

Studienteilnahme bei „Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.“ in Berlin. Kontakt per Mail: johanna.hess@dissens.de und malte.taeubrich@dissens.de.

INFORMATION


Hier bekommen Sie Hilfe

Betroffene oder Menschen, die einen Missbrauch vermuten, können sich kostenfrei und anonym an das „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ wenden: 0800-22 55 530. Weitere Infos zu Beratungs- und Hilfeangeboten vor Ort gibt es unter: www.hilfeportal-missbrauch.de

Kinder und Jugendliche, die Missbrauch erlebt haben, können sich montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr an die „Nummer gegen Kummer“ (116 111) wenden. Auf www.nummergegenkummer.de gibt es auch die Möglichkeit, mit den Beratern zu chatten.

Wer sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlt oder pädophile Neigungen bei sich vermutet, findet Ansprechpartner beim Projekt „Kein Täter werden“ der Berliner Charité. Auf www.kein-taeter-werden.de und unter 030-450 529 450 gibt es kostenlose Informationen. Es gilt die ärztliche Schweigepflicht.