Die Nacht, in der Bielefeld sein Gewissen verlor

Bielefeld. Um 4.49 Uhr am 10. November 1938 wird der nah am Kesselbrink gelegenen &bdquo;Feuerlöschpolizei“ ein Brand gemeldet. Die Synagoge brennt. Mit dieser Nachricht wird auch der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Willy Katzenstein, aus dem Schlaf gerissen. Er eilt los zur Turnerstraße 5, um es mit eigenen Augen zu sehen: Die Synagoge und das Gemeindehaus stehen in Flammen. In seiner Biografie beschreibt Katzenstein das &bdquo;Gefühl einer schrecklichen Gefahr“, das er beim Anblick der Flammen über seiner geliebten Synagoge bekommt – und aufgrund der vielen Schaulustigen, die sich teilweise erfreut über dieses &bdquo;Spektakel“ äußern. Ohne erkennbaren Grund wird er noch vor Ort mit 30 anderen Männern der jüdischen Gemeinde gewaltsam festgenommen. Er selbst wird nach einigen Stunden wieder freigelassen – die meisten anderen Gefangenen haben weniger Glück und werden in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Neben der Synagoge wurden über Nacht 17 jüdische Geschäfte, größtenteils in der Bielefelder Innenstadt, geplündert und zerstört. Landesweit 400 jüdische Mitbürger getötet und 30.000 verhaftet In der Nacht vom 9. auf den 10. November kam es nicht nur in Bielefeld zu derartigen Gewaltaktionen gegen Juden. Im gesamten Deutschen Reich wurden mehr als 1.400 Synagogen und etwa 7.500 jüdische Geschäfte und Wohnhäuser geplündert und zerstört, mindestens 400 Juden ermordet und weitere 30.000 verhaftet, von denen wiederum Hunderte in Konzentrationslagern starben. Auslöser für diese Pogromnacht – von den Nazis beschönigend auch &bdquo;Reichskristallnacht“ genannt – war offiziell die Ermordung des Legationssekretärs Ernst vom Rath in Paris durch den 17-jährigen Juden Herschel Grynzspan am 7. November 1938. Der Mord wurde vom NS-Regime propagandistisch ausgeschlachtet, um zu einem Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung aufzurufen. Presse hetzt gegen jüdische Mitbürger Im Bielefelder Stadtanzeiger erscheint am 11. November 1938 ein kurzer Artikel mit der Überschrift: &bdquo;Antwort an das Judenpack. Der Judentempel brannte aus.“ Diese Zeile zeigt, wie die Gewalttaten der Reichspogromnacht in Teilen der Bevölkerung aufgenommen wurden – viele schauten zu, manche begrüßten sie sogar. Nach dieser Nacht verändert sich das Leben für die Jüdinnen und Juden in Bielefeld grundlegend. Für viele markiert sie den Beginn der offenen Verfolgung in Deutschland. Auch der Bielefelder Rechtsanwalt Willy Katzenstein und seine Familie sind betroffen. Ab dem 15. November darf Katzenstein seinen Beruf nicht mehr ausüben, weil jüdischen Anwälten der Auftritt vor Gericht verboten wurde. Kurz darauf müssen seine beiden Töchter, wie alle jüdischen Kinder, die Schulen verlassen. In seinen späteren Aufzeichnungen beschreibt Katzenstein, wie frühere Freunde und Bekannte nun auf der Straße ausweichen und wie immer mehr &bdquo;Juden unerwünscht“-Schilder vor Restaurants und Geschäften hängen. Verlust der Heimat - Gedanken an Emigration Diese sich immer weiter radikalisierende Hetze und die daraus entstehende Angst führen bei Katzenstein zu einer bedrückenden Erkenntnis: &bdquo;Beim Anblick der rauchenden Trümmer fühlte ich zum ersten Mal in aller Klarheit, dass ich die Heimat endgültig und unwiderruflich verloren hatte, und nun daran denken musste, meinen Aufbruch vorzubereiten.“ Schließlich gelingt seiner Familie mithilfe von Verwandten die Ausreise nach England, und er verlässt das &bdquo;zum Feindesland gewordene Vaterland“, wie er es später beschreibt. Heute erinnern vier Stolpersteine in der Viktoriastraße 24 an die einst hier lebende Familie Katzenstein. Andere Familien hatten weniger Glück. Tausende Bielefelder Jüdinnen und Juden wurden ab 1941 entrechtet, deportiert und ermordet. Stolpersteine erinnern an die Geschichten der Opfer 87 Jahre nach der Reichspogromnacht hat Bielefeld eine neue Synagoge an der Detmolder Straße. Doch 87 Jahre später gibt es nur noch wenige Zeitzeugen, die von ihren schrecklichen Erlebnissen erzählen können. Zahlreiche Stolpersteine erinnern in der Stadt an die Geschichten der Opfer und ihrer Familien. Gelegenheit zur Erinnerung gibt es am Sonntag, 9. November, in Bielefeld: Ab 17 Uhr findet eine Gedenkveranstaltung an der Turnerstraße 5 statt – dort, wo 1938 die Bielefelder Synagoge brannte. Oberbürgermeisterin Christiana Bauer wird im Anschluss eine Rede im Großen Saal des Neuen Rathauses halten, und es wird Beiträge von Bielefelder Schülerinnen und Schülern geben. 📱 News direkt aufs Smartphone: Hier finden Sie den kostenlosen Whatsapp-Kanal der NW-Bielefeld

Meistgelesen