Physiker kritisiert OB und wird deutlich: „Bielefeld lebt über seine Verhältnisse“

Bielefeld. Detlef Koenemann ist ein ruhiger und eher besonnen formulierender Mensch. Einer, der aus Hannover stammt und seit 1988 Bürger dieser Stadt ist. Im Verlaufe des elften NW-Sommergesprächs zu der Frage &bdquo;Droht Bielefeld der Abstieg?“, sagt der 70-Jährige: &bdquo;Ach, ich passe hier schon gut hin.“ Insgesamt fühle er sich wohl in seiner Wahlheimat. Er schätze das Grün in der Stadt, die kurzen Wege, sein schönes Wohnumfeld am Stauteich I und auch die Rad- und Fußwege durch die Grüngürtel der Stadt. Doch der Physiker und Journalist sorgt sich auch um Bielefeld und betont: &bdquo;Ich habe das Gefühl, dass uns der Gemeinsinn immer mehr verloren geht, und wir uns zudem als Kommune finanziell seit Jahren mächtig verheben.“ Bielefeld sollte sich an diesen Punkten ehrlich machen und umsteuern. Was meint er konkret mit dem schwindenden Gemeinsinn? &bdquo;Wie kann es zum Beispiel sein, dass der neue Jahnplatz nach nur kurzer Zeit total verdreckt aussieht?“, fragt er zurück. &bdquo;Wie kann es sein, dass wir es zulassen, dass auf dem Kesselbrink, an der Tüte und auf anderen Plätzen sich Kriminalität immer stärker breitmachen kann, sodass das Unsicherheitsgefühl vieler Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen ist?“, fragt Koenemann, der den Grünen seit 1997 angehört. Lesen Sie auch: Offiziell: Bielefelder Innenstadt wird ab Samstag zur Waffenverbotszone Rücksicht als erste Bürgerpflicht &bdquo;Wie kann es sein, dass eine Polizistin in der Obernstraße mir sagt, dass man gegen den viel zu schnell vorbeirasenden Radler ohnehin nichts machen könne?“, nennt er eine weitere kleine Beobachtung und fügt an: &bdquo;Warum nehmen die Menschen, wenn sie an der offenen Lutter oder anderswo gefeiert haben, ihren Müll nicht einfach mit nach Hause, wie es ihre Pflicht wäre? Warum fällt es vielen so schwer, Rücksicht walten zu lassen, zum Beispiel im Bielefelder Straßenverkehr? Dabei sollte das doch unsere erste Bürgerpflicht sein“, schiebt Koenemann noch eine Anmerkung nach. Er habe den Eindruck, dass sich die Stadtgesellschaft hier gerade etwas in die Tasche lüge. &bdquo;Wir wollen, dass Bielefeld bunt und weltoffen ist, verwechseln das aber mit einer Haltung, des ,Alles geht’.“ Für ihn, der vor seiner Grünenmitgliedschaft 20 Jahre der SPD angehört hat, sei das &bdquo;falsch verstandene Liberalität“. &bdquo;Wir haben eine Tendenz auch in Bielefeld entwickelt, zu lange wegzuschauen, in Gleichgültigkeit zu verharren“, beklagt Koeneman. &bdquo;Wir sollten wieder hinschauen, uns einmischen und da, wo es geboten ist, auch stärker auf Ordnungsamt und Polizei setzen, wenn es anders nicht möglich ist.“ Lesen Sie auch: Mein Ortscheck OWL: Alle Ergebnisse im Überblick Rasende Radler und Autos stoppen Rasende Radler seien genauso zu stoppen wie rasende Autofahrer. Vermüllung gehöre geahndet – &bdquo;konsequent“. Auch vermeintlich geringe Ordnungswidrigkeiten dürften nicht einfach durchgehen, nur weil sie als gering erscheinen mögen. &bdquo;Sonst machen alle Sünder ja einfach immer so weiter.“ Es habe ihn wirklich betroffen gemacht, als er in der NW gelesen habe, dass in der Staatsanwaltschaft Bielefeld vor einigen Monaten Tausende Strafverfahren und viele Hundert Ordnungswidrigkeitsverfahren liegen geblieben sein sollten. Das könne doch nicht angehen. &bdquo;Das alles meine ich damit, wenn ich sage, dass unser Gemeinsinn gefährdet ist.“ Lesen Sie auch: Polizeipräsidentin soll Bielefelder Staatsanwaltschaft übernehmen Er erwarte gerade auch von einem Oberbürgermeister in Bielefeld, dass er nicht immer nur darauf bedacht sein dürfe, nett rüberzukommen. &bdquo;Ein OB muss auch führen können und bereit sein, sich notfalls unbeliebt zu machen und die Richtung klar vorzugeben, sonst ändert sich doch nichts.“ Diese Haltung habe er bei Pit Clausen vermisst. Das Ehrenamt muss gestärkt werden Vom neuen OB erwarte er ein anderes Herangehen und auch eine klare Stärkung des Ehrenamts, denn auch der Ausbau des Ehrenamts und dessen stärkere Wertschätzung in dieser Stadt könnten dazu beitragen, den Gemeinsinn in Bielefeld wieder zu stärken. &bdquo;Wir sollten in unserer Stadt einen großen Tag des Ehrenamts ins Leben rufen und der OB sollte das zur Chefaufgabe machen“, regt Koenemann an, der sich selbst als &bdquo;Leseopa“ an einer Grundschule in Baumheide sowie im Kirchenchor seiner Markus-Kirchengemeinde engagiert. &bdquo;Ohne ein gestärktes Ehrenamt werden wir in dieser Stadt die vielen Herausforderungen nicht mehr bewältigen können, auch angesichts der leeren Kassen der Stadt“, ist sich der Journalistenkollege mit dem Fachgebiet Solar-, Wind- und Bioenergie sicher. Lesen Sie auch: Finanzkrise mit Ansage: Haushaltssperre für Bielefeld Auch die Finanzen der Stadt sind dem ehemaligen Chefredakteur des Branchenmagazins &bdquo;Sonne, Wind & Wärme“ ein Anliegen, denn er sagt: &bdquo;Bielefeld lebt über seine Verhältnisse. Wir produzieren den Wohlstand hier gar nicht, den wir aber selbstverständlich in Anspruch nehmen.“ Deshalb seien ein ehrlicher Kassensturz und eine Aufgabenkritik, was wir uns noch wirklich leisten können und wollen, dringend geboten, sagt Koenemann. Und was könnte das sein? Lesen Sie auch: Neue Pläne für die Stadtbahn in den Bielefelder Norden &bdquo;Zum Beispiel die Erweiterung der Stadtbahnlinien nach Senne und Jöllenbeck und darüber hinaus“, sagt er. &bdquo;Sie sind sicherlich nicht falsch, aber können wir sie wirklich noch stemmen und werden sie nicht hochdefizitär bleiben und die Menschen, die längst auf das Auto setzen, wirklich zum Umstieg bewegen?“ Diesen Fragen müsste man sich doch ehrlich stellen. Es muss nicht immer der Goldstandard sein Aber auch die Frage, ob wir uns wirklich die Sanierung der Kunsthalle für 40 Millionen Euro noch leisten können, gehöre auf die Tagesordnung – wie auch die hohen Kosten für das Theater, die vor der Sommerpause auch noch aufgestockt worden seien, wirft Koenemann Fragen auf angesichts der hohen städtischen Verschuldung, &bdquo;die wir Boomer den nachfolgenden Generationen zumuten“ und regt an: &bdquo;Wir sollten uns sehr schnell in Bielefeld fragen, ob es nicht auch eine Spur kleiner geht. Muss es wirklich immer der Goldstandard sein?“, fragt Koenemann zum Schluss des Sommergesprächs und gibt seiner Stadt als Gesamtnote immer noch eine 3 plus. 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