Unfallopfer berichtet in Bielefeld: „Der Tod hat meine Hand gehalten“

Bielefeld. Nur ein kurzer Moment – und das Leben hat sich schlagartig und langfristig verändert. Während ein Verkehrsunfall im Film mit dem Abtransport ins Krankenhaus endet, fängt dort der eigentliche Kampf für die Verletzten gerade erst an. &bdquo;Es war Endstufe. Der Tod hat meine Hand gehalten, aber die Ärzte haben nicht losgelassen“, berichtet Kathleen Heinsohn, die 2022 als Beifahrerin auf dem Heimweg von einer Kirmes in einen Unfall verwickelt wurde. Plötzlich raste ein Auto von der Gegenbahn auf sie zu, die Autos kollidierten. Heinsohn wurde durch die Windschutzscheibe geschleudert. Ihre Rückkehr ins normale Leben war geprägt von zahlreichen Operationen und hat sich über Monate und Jahre gezogen. &bdquo;Die Schwerstverletzung ist die häufigste Todesursache von unter 40-Jährigen“, sagt Thomas Vordemvenne, Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie am EvKB. &bdquo;Das ist nicht Krebs, das ist kein Schlaganfall – es ist der Unfall.“ Jedes Organ betroffen Das Evangelische Klinikum Bethel (EvKB) zeigte die Konsequenzen einer Schwerstverletzung beim &bdquo;Party“-Aktionstag (&bdquo;Party“ steht für &bdquo;Prevent Alcohol and Risk Related Trauma in Youth“) – eins der weltweit erfolgreichsten Unfallpräventionsprogramme. Im Erste-Hilfe-Kurs endet der Einsatz des Ersthelfers mit dem Eintreffen des Rettungswagens. Das Party-Programm setzt genau danach an: Es hat zum Ziel, Unfälle durch Alkoholkonsum durch eindrückliche Vorbeugung zu vermeiden. Schüler der Oberstufe des Ceciliengymnasiums erlebten dabei, was auf Unfallopfer im Krankenhaus zukommt. 160 Schwerstverletzte kommen pro Jahr in Bethel rein. &bdquo;Das ist eine extrem große Zahl.“ Das sei außerdem nur die Zahl der Polytraumata, sagt Vordemvenne: Mehrfachverletzungen, wie bei Heinsohn. &bdquo;Es war ein Chaos in mir drin“, erzählt die damals 21-Jährige von ihrem Zustand bei Ankunft im Klinikum Bethel. &bdquo;Jedes Organ war betroffen.“ Dazu kamen Knochenbrüche und eine zerschmetterte Hüfte. Rund-um-die-Uhr-Überwachung auf der Intensivstation Karen Lemkemeyer von der Verkehrsunfallprävention der Polizei setzt spezielle Brillen ein, um völlig nüchternen Menschen zu zeigen, wie sich 0,8 Promille auf den Körper auswirken: Es wird schwierig, Distanzen einzuschätzen, die Sicht ist eingeschränkt. Bei 1,2 Promille ist selbst eine einfache Aufgabe wie das Einschenken eines Glases Wasser oder das Umlaufen von Pylonen schwierig – geschweige denn das Fahren eines Autos, Motorrads, E-Scooters oder eines Fahrrads. Nach der Erstversorgung im Schockraum geht es für die Schwerverletzten auf die Intensivstation. Hier kümmert sich viel Personal um wenig Patienten, die Räume sind voller Gerätschaften. &bdquo;Weil sie es nötig haben“, sagt Hendrik Bracht, stellvertretender Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Schmerztherapie sowie Intensiv-, Notfall- undTransfusionsmedizin am EvKB. Hier werden Patienten in der kritischen Phase intensiv überwacht. &bdquo;Die meisten kommen auch wieder runter“, versichert er. Die häufigsten Verletzungen seien Knochenbrüche, Wirbelsäulen- und Kopfverletzungen. Einige müssen auch künstlich beatmet werden. So war es etwa bei Heinsohn. Die junge Frau lag elf Wochen im Koma, bevor sie langsam wieder zu Bewusstsein kam – verkabelt, künstlich beatmet und von Schmerzmitteln benebelt. &bdquo;Ich habe jeden Schlauch gespürt.“ Sekunden zur Verletzung, Jahre zum Heilen Heinsohn hatte großes Glück. Denn: &bdquo;Eine nicht unerhebliche Zahl von Patienten sehen wir gar nicht erst“, sagt Vordemvenne. &bdquo;Weil sie am Unfallort sterben.“ Aber auch sie schaffte es irgendwann, die Intensivstation zu verlassen. Ihr während des Unfalls teilamputiertes Bein wurde noch bis letztes Jahr von einem Metallgerüst – einem Fixateur – zusammengehalten. Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Kathleen ? (@mrsleeni) Pflegekraft Manuel Klimt zeigt weitere Materialien, die in der Unfallchirurgie zur Therapie von Knochenbrüchen genutzt werden können: Nägel und Stäbe aus Metall, aber auch Schlingen und Schienen. Zur Mobilisierung zeigt er einen Wagen, einem Rollator nicht unähnlich, an dem sich Patienten mit den Unterarmen abstützen können. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sind schwere Unfallfolgen aber in der Regel noch nicht verschwunden: Es folgen Reha, Therapien und Krankengymnastik. Zwei Jahre, um sich von einem Unfall zu erholen, seien normal, sagt Vordemvenne. Kathleen Heinsohn ist auch heute nicht mit allen Operationen durch, wie sie erzählt. Lesen Sie auch: Tausende begleiten schwer verletzte Patientin in Bielefeld auf dem Weg zurück ins Leben &bdquo;Jeder ist nach einem Unfall betroffen“ Doch nicht nur die physischen Belastungen seien für Überlebende schwierig. Auch die psychischen seien nicht zu unterschätzen. Sven Roosen wurde 2017 bei einem Motorradunfall verletzt. Der damals 17-Jährige verlor seinen Arm, das Bein erlitt mehrere Brüche, Becken und Brustkorb waren verletzt. Ihn plagte anfangs die Frage, ob der Unfall seine Schuld war, denn Erinnerungen habe er daran nicht. Verantwortlich war er letztlich nicht: Ein Autofahrer unter Drogeneinfluss setzte zu seinem Überholmanöver an. Der überholende Wagen riss den Schüler mit. Auch Roosens Eltern litten unter seinen Verletzungen, sagt der heute 25-Jährige. Ähnliches erzählt auch Heinsohn: &bdquo;Nicht nur die betroffene Person ist beschädigt, sondern auch die Familie“, sagt sie. Dort hört es aber noch nicht auf: &bdquo;Zu beobachten, wie Angehörige Leid erleben, ist schlimm“, berichtet Karen Lemkemeyer von der Verkehrsunfallprävention. &bdquo;Jeder ist bei einem Unfall betroffen, und man nimmt das auch lange Jahre mit.“ Ob das Präventionsprogramm bei den Schülern einen Unterschied machen wird, ist unklar. Zählen könne man schließlich nichts, das nicht passiert, sagt der Chefarzt. Einen Eindruck gemacht habe es auf jeden Fall, berichtet eine Schülerin. Eine andere Schülerin habe etwas Wesentliches gelernt: Sie sei erst kürzlich betrunken Fahrrad gefahren – zum Glück ohne Unfall. Das wolle sie nun nie wieder tun. Lesen Sie auch: Hightech-Arm hilft 19-Jährigem nach Horror-Unfall zurück ins Leben

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