Geflüchtete in Bielefeld: „Assad hat Syrien in einen Albtraum verwandelt“

Bielefeld. Am 8. Dezember war Gabriel Aldelli in Bielefeld morgens um fünf schon hellwach: Es war der Tag, an dem der syrische Diktator Baschar al-Assad nach Moskau floh. Die Nachrichten auf Aldellis Handy überschlugen sich. &bdquo;Ich konnte drei Tage nicht schlafen, habe alles aufgesogen“, erinnert sich der 27-jährige Syrer an die Tage am Jahresende, als die Welt nach dem Sturz des Assad-Regimes für einen Moment den Atem anhielt. Die verbrecherische Assad-Dynastie hatte das Land mehr als 50 Jahre im Würgegriff gehalten. Aldelli und die anderen drei in dieser &bdquo;NW“-Gesprächsrunde im Alarmtheater – Mohammad Osman (27), Rodi Jatto (27) und Ibrahem Khilli (24) – sind froh über die Entwicklung, keine Frage. Doch beschleicht sie auch Skepsis gegenüber den Absichten der neuen Machthaber mit ihrer islamistischen Prägung. Mindestens 20 Jahre werde es dauern, bis die enormen Schäden im Land behoben sind, ist Aldelli überzeugt. &bdquo;Das Land ist so kaputt“, sagt er kopfschüttelnd. Gerade in der Hauptstadt Damaskus gebe es viel Elend, viele Traumatisierte. Immerhin – die horrenden Lebensmittelpreise seien gesunken. Eine wichtige Voraussetzung für dauerhaften Frieden. &bdquo;Früher mussten die Menschen manchmal sechs Stunden anstehen für Brot“, berichtet er. &bdquo;Sie wussten ihre Namen nicht mehr, waren völlig verstört“ Mohammad Osman sagt mit Nachdruck: &bdquo;Ich bin froh, dass dieser Mensch (Baschar al-Assad, Anm. d.Red.) endlich verschwunden ist, der das Land in einen Albtraum verwandelt hat.“ Dass Putin der Familie Unterschlupf gewährt (&bdquo;gegen viel Geld und Goldbarren, die die Assads vorher ins Ausland geschafft hatten“), ärgert ihn zwar. Doch die Hauptsache für Syrien sei, dass das Trauma ende, das sich dieser Tage besonders in der Entdeckung der katastrophalen Verhältnisse in Assads berüchtigtem Folter-Gefängnis Saidnaja manifestiert. Die Bilder haben sich den vier Syrern eingebrannt, die alle als Teenager aus Syrien geflüchtet waren. Das ist zehn bis zwölf Jahre her. Die Bilder von Tonnen von Captagon-Pillen unter Assads Palästen, eine billige Droge, mit der sich Soldaten im Kampf zum Äußersten treiben lassen. Assad machte mit deren Handel seine zig Millionen. Bilder vom unermesslichen Reichtum des Diktators, der sich in den nun geöffneten Palästen geradezu obszön präsentiert, während das Volk litt und hungerte. Lesen Sie auch: Nach Sturz des Diktators Assad: Deshalb möchte eine syrische Familie in Bielefeld bleiben Ibrahem Khillis Bruder lebt im schwer gebeutelten Aleppo, dessen Geschichte und Bilder massiver Zerstörung im Bürgerkrieg um die Welt ging. &bdquo;Als mein Bruder schrieb, dass dort die Übernahme durch die Rebellen kurz bevorstehe, konnte ich es nicht glauben.“ Ein Sieg in zwei Wochen, das kommt ihm fast surreal vor. Zu erklären sei das wohl damit, dass viele Soldaten nicht mehr bereit gewesen seien, für Assad zu kämpfen. Hoffnung auf einen Demokratisierungsprozess Im Fernsehen zu sehen, wie die Menschen aus Saidnaja befreit wurden, sei ein sehr emotionaler Moment für alle gewesen, berichten die Vier. &bdquo;Manche Menschen haben zehn Jahre kein Sonnenlicht gesehen. Sie wussten ihren eigenen Namen nicht mehr, waren komplett verstört“, berichtet Ibrahem. Eingeprägt hat sich ihm die Geschichte eines vierjährigen Kindes, das aus Vergewaltigungen seiner Mutter durch Wachmänner entstanden war: &bdquo;Es hatte noch nie einen Baum gesehen oder einen Vogel gehört und war vor Angst geradezu erstarrt, als man es raus führte.“ Überwältigt von Freude hatte Rodi Jatto am Tag der Befreiung mit anderen Syrern auf dem Kesselbrink gefeiert. &bdquo;Ich habe ein gutes Gefühl für die Zukunft des Landes“, sagt er. Dennoch – die neuen Machthaber seien bislang keine berechenbare Größe. Doch habe er Hoffnung, dass sich das Land in einem langen Prozess demokratisieren könne. Man brauche dafür einen langen Atem und viel Hilfe von außen. In Deutschland sind die jungen Männer längst angekommen. Sie, die als 15- oder 16-Jährige die Situation in Syrien nicht mehr ertragen hatten und sich auf gefährliche Fluchtrouten begaben. Manche gegen den Widerstand der Familie. &bdquo;Ich hatte keine Hoffnung mehr, dass sich unser Leben verbessern würde“, erinnert sich Mohammad, der zunächst in die Türkei flüchtete, dann in einer engen Kiste in einem Lkw-Anhänger drei Tage lang auf einer Fähre vom türkischen Izmir nach Italien ausharrte. Alle mussten sie Schlepper entlohnen, es sei für die ein &bdquo;Riesengeschäft“. Mohammad brillierte im Anne-Frank-Theaterstück &bdquo;Ich war mit 17 der jüngste von fünf. Der Fahrer wusste nicht mal, welche Fracht er da geladen hatte. Wir haben nur von Wasser und Datteln gelebt.“ Es war sein 23. Versuch, nach Westeuropa zu kommen. Mohammad deutet nur an, wie die anderen endeten – mit Schlägen durch Grenzer, mit einer gebrochenen Hand. Auch die anderen berichten von brutalen Grenzposten vor allem in Bulgarien, von Verletzungen und Haft. Lesen Sie auch: Flüchtlingshelfer aus Spenge: Vielen Syrern steht die schwierigste Entscheidung ihres Lebens bevor Auch Gabriel, Rodi und Ibrahem treibt eine große Sehnsucht nach einem besseren Leben an, als sie sich minderjährig und allein, teils auch mit anderen in unsicheren Schlauchbooten auf den Weg machen. Rodi hatte in Aleppo viel Gewalt mit ansehen müssen. Als die Bomben &bdquo;praktisch vor unsere Haustür fielen“, floh er zunächst zu einem Cousin in den Nordirak. Dann, ein Jahr später, über die Balkanroute nach Europa. Im Bielefelder Clearinghaus für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge traf er Mohammad. Beide sind bis heute dankbar für die Betreuung dort, die ihnen half, in Bielefeld Fuß zu fassen. Alle lernten die deutsche Sprache schnell (Rodi: &bdquo;Wenn man jung ist, fällt das leicht“), die sie heute in beeindruckender Perfektion sprechen. Alle fanden Kontakt zum Alarmtheater, wo sie unter der Leitung von Dietlind Budde und Harald Otto Schmid in internationalen Theaterprojekten erstaunliche Bühnenpräsenz entfalteten. &bdquo;Wir fühlen uns inzwischen mehr deutsch als syrisch“ Mohammad brillierte sogar als Peter im Anne-Frank-Stück &bdquo;Geschichten aus dem Hinterhaus“ (dafür erhielt er 2017 einen Stern des Jahres der NW-Kulturredaktion) und in &bdquo;Address Unknown“ und lernte viel über die NS-Katastrophe. Sie absolvieren Ausbildungen zum Krankenpfleger (Gabriel), Elektroanlagenmonteur (Mohammad), zum medizinisch-technischen Radiologie-Assistenten (Rody). Ibrahem studiert Wirtschaftsingenieurwesen an der HSBI. Die Stationen Wohngruppe–Oberstufenkolleg–Alarmtheater haben sie gemeinsam erfahren. Sie sind dankbar und glücklich für die vielen hilfreichen Menschen auf ihrem Weg in Bielefeld und in der Region. Heimweh nach Syrien? Keiner denkt darüber nach, zurückzugehen. &bdquo;Außer auf Urlaub, wenn das irgendwann möglich ist“, ergänzt Mohammad. Sie besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft oder haben sie beantragt. Sie haben Fuß gefasst, sind angekommen: Ibrahem, Gabriel und Rodi in Bielefeld, Mohammad in Herzebrock-Clarholz, wo er mit seiner langjährigen Freundin lebt. Bald werden die beiden heiraten. Befremdlich finden sie die übereilte Debatte einiger Politikerinnen und Politiker um eine baldige Rückführung der Syrer. &bdquo;Es ist Unsinn, darüber jetzt zu reden“, sagt Mohammad, und erinnert an die große Zahl Syrer, die in Brot und Arbeit stehen und den Fachkräftemangel hierzulande lindern. Was sie betrifft: &bdquo;Wir fühlen uns inzwischen mehr deutsch als syrisch“, betont Rodi stellvertretend für die anderen Drei und lacht. Wer mit ihnen spricht, hat daran keinen Zweifel. News direkt aufs Smartphone: Hier finden Sie den kostenlosen Whatsapp-Kanal der NW Bielefeld

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