Nach unfassbarem Leid: Irakerin bringt Hoffnung in Bielefelder Problemviertel

Bielefeld. Was Aras Surchi in ihrem Leben hat erleben und erleiden müssen, ist kaum vorstellbar. Als älteste Tochter ihrer Familie im Irak muss sie die Schule nach zwei Jahren abbrechen und als Kind im Haushalt arbeiten. Als 17-Jährige flieht sie vor dem Krieg nach Deutschland, heiratet wenig später. Als ihr erstes Kind schwer erkrankt, läuft sie im fremden Land ohne Sprachkenntnisse von Arzt zu Arzt. Das Schlimmste tritt ein, ihr kleiner Sohn stirbt, Surchi droht daran zu zerbrechen. Doch sie schafft den Neuanfang. Heute kümmert sich die 43-Jährige selber um andere – um Frauen und Familien in einem Viertel, das als eines der schwierigsten in Bielefeld gilt. Ehrenamtlich, neben einem Vollzeitjob. Ihr selbstloser Einsatz hat Aras Surchi jetzt sogar eine Nominierung beim Bielefelder Frauenpreis 2024 eingebracht. Wie hat sie das geschafft? Kämpferin für das Ostmannturmviertel Die Rolle im Rampenlicht ist ungewohnt für Surchi. &bdquo;Ich fühle vor allem Dankbarkeit, ich habe das alles nie erwartet“, sagt sie beim Treffen an der August-Bebel-Straße. Hier im Ostmannturmviertel am Hauptbahnhof, das berüchtigt ist für Drogenprobleme, Prostitution, Kriminalität, hat der Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes seine Räume. Die nachdenkliche Frau mit den langen schwarzen Haaren, die Ruhe und Kraft, aber auch Zurückhaltung ausstrahlt, kennt hier jeder: Seit zehn Jahren ist sie Stadtteilmutter der ersten Stunde im Ostmannturmviertel, dem Quartier, in dem sie nach der Flucht in den 1990er-Jahren in Bielefeld eine Heimat fand und in dem bis heute zu Hause ist. Es ist der Ort, an dem Surchi als junge Mutter selbst einst Hilfe und Halt beim DRK fand und dem sie heute etwas zurückgeben möchte. Aras Surchi hatte keine Kindheit Als sie 1997 nach Deutschland kommt, spricht Surchi kein Deutsch, hat kaum Schulbildung. Lesen und Schreiben habe sie sich mit 14 Jahren selbst beigebracht, erzählt sie. &bdquo;Ich hatte keine Kindheit.“ Als sie als junge Mutter Jahre später im DRK-Familienzentrum Weltweit im Ostmannturmviertel ehrenamtlich eine Spielgruppe leiten soll, muss sie sich die Spielsachen erst einmal selbst genau anschauen. &bdquo;Ich wusste nicht, wie spielen geht und war selbst im Bällebad. Die anderen Mütter haben sich gefragt: Was macht die da?“ Lesen Sie auch: Öffentlicher Drogenkonsum in Bielefelder Wohnquartier – Stadt reagiert mit Notprogramm Surchis Leben ist von Anfang an durch Aufgaben, Pflichten und Aufopferung für die Familie geprägt. &bdquo;Ich habe, seitdem ich sechs Jahre alt war, nur funktioniert.“ Das ändert sich auch mit der Flucht nicht. Sie ist erst kurze Zeit in Deutschland, als sie heiratet und wenig später ihr erstes Kind geboren wird. Der kleine Junge erkrankt schwer, muss 24 Stunden gepflegt werden. Ohne Sprachkenntnisse fühlt sich die junge Mutter oft völlig hilflos, verzweifelt an der Verständigung mit Ärzten und in der Kinderklinik in Bethel. Dort habe sie auch viel Verständnis und Hilfe erlebt. Zeit für einen Deutschkurs bleibt nicht, Surchi ist inzwischen auch Mutter von Zwillingen geworden. Deutsch versucht sie beim gemeinsamen Schauen von Kindersendungen zu lernen. Kita hilft junger Mutter nach dem Tod des Kindes Als ihr kleiner Sohn im Alter von zehn Jahren stirbt, zieht sie sich zurück. Sie verlässt ein Jahr lang die Wohnung nicht, hat kaum Kontakt zu Menschen. Der Besuch einer Erzieherin der DRK-Kita ihrer Kinder bringt die Wendung in ihrem Leben. &bdquo;Sie hat mich aus dem Haus geholt.“ Im Familienzentrum lernt Surchi andere Mütter kennen, die heute Freundinnen, eine zweite Familie geworden sind. Unser Kommentar zum Ostmannturmviertel: Wegen Drogen – Ein attraktives Stadtquartier in Bielefeld steht auf der Kippe Und hier werden ihr erste Fortbildungen angeboten. &bdquo;Ich war und bin noch immer hungrig nach Wissen. Und ich wollte Frauen mit Sprachproblemen helfen, weil es für mich selbst so schlimm war.“ Als 2014 das Projekt &bdquo;Stadtteilmütter“ im Ostmannturmviertel startet, wird Surchi angesprochen, ob sie mitmachen will. &bdquo;Ich habe mir das erst nicht zugetraut, ich habe ja keinerlei Schulbildung, mein Deutsch war nicht gut.“ Sie wird ermutigt, wagt den Schritt. Hilfe für Familien im Ostmannturmviertel Als Ansprechpartnerin auf Augenhöhe sucht sie seitdem den Kontakt zu kurdisch- und arabischsprachigen Familien im Ostmannturmviertel, hört zu, begleitet die Frauen bei Behördengängen, übersetzt bei Arztbesuchen, erklärt, welche Hilfen die Jugendämter in Deutschland geben können. &bdquo;Viele haben einfach große Angst und denken, das Jugendamt nimmt ihnen die Kinder weg.“ Anfangs habe sie auch versucht, Familien in der Kinderklinik in Bethel zu begleiten. &bdquo;Das geht für mich emotional nicht, da liegt meine Grenze.“ Lesen Sie auch: Bielefelder Quartier kämpft gegen Drogen auf dem Spielplatz und Prostitution im Hinterhof Surchi holt sich Informationen, wo sie kann, macht Schulungen, Fortbildungen, wird 2013 Gesundheitslotsin der Stadt im Gesundheitsprojekt &bdquo;Mit Migranten für Migranten“ (&bdquo;MiMi“). Ehrenamt und Arbeit geben ihr neues Selbstbewusstsein und sie überzeugt andere von sich: mit ihrer überlegten Art, ihrem Durchhaltevermögen, ihrer Empathie, ihrer freundlichen und klugen Herangehensweise bei Problemen. Stadtteilmutter-Kollegin Jennifer Kubatzki sagt: &bdquo;Aras behält immer den Überblick.“ Als ihr schließlich eine feste Stelle in der Frauenberatung angeboten wird, kann es die gebürtige Irakerin kaum glauben. Alle anderen schon. Aras Surchi begleitet heute Geflüchtete am Rütli Als Surchi 2019 ein Vollzeitjob als Sozialbegleiterin in der Flüchtlingsunterkunft am Rütli angeboten wird, wird für sie ein Traum wahr. Hier schätzt man ihre Erfahrung. Zu Hause unterstützen Mutter, Mann und Kinder Surchis Pläne und sind unglaublich stolz. Stolz ist auch Surchi: Ihre Zwillinge haben inzwischen beide das Abitur geschafft. &bdquo;Ich liebe meine Arbeit“, sagt die 43-Jährige. Doch ihr Ehrenamt als &bdquo;Stadtteilmutter“ im Ostmannturmviertel ist ein Teil von ihr geworden, den sie nie aufgeben möchte. Lesen Sie auch: Botschafterin des Gesangs in Bielefeld: Nike Schmitka für Frauenpreis nominiert Dass sie für dieses Ausnahme-Engagement jetzt für den Bielefelder Frauenpreis des Bunds der Frauenvereine Bielefeld nominiert worden ist, habe sie überrascht und sehr gefreut. &bdquo;Nicht für mich selbst, ich brauche kein Lob. Aber dass die Arbeit der Stadtteilmütter in Bielefeld gesehen und geschätzt wird, macht mich sehr glücklich.“ Seit zehn Jahren bringen die Frauen Bewohner, Behörden, Gesundheitssystem und Hilfsangebote in Kontakt und sind zum integrativen Türöffner für das Ostmannturmviertel geworden. Ein Viertel, das seine Probleme hat. Und das Frauen wie Aras Surchi hervorbringt. Eine von fünf Nominierten beim Bielefelder Frauenpreis Die weiteren Nominierten für den Bielefelder Frauenpreis 2024, der am 28. September im Kultur- und Kommunikationszentrum Sieker vergeben wird, sind: Almut Rademacher Anke Koster Nike Schmitka Friderike Borchers Der Bund der Frauenvereine Bielefeld, der den Preis verleiht, setzt sich für die Verbesserung der Stellung von Frauen in Familie, Berufswelt, Ehrenamt, Politik und Gesellschaft ein. Die Gewinnerin des Frauenpreises wird von einer sechsköpfigen Jury gewählt, zu der auch NW-Chefredakteurin Andrea Rolfes gehört. “https://www.facebook.com/plugins/post.php?href=https%3A%2F%2Fwww.facebook.com%2Fpermalink.php%3Fstory_fbid%3Dpfbid0qGooUuY83Fs1H9AcJQfxLjFSJ8hx4hPdBFE2kneNsKXi3gyMBoxAaZ4e7Q2XpiUQl%26id%3D1547022832264120&show_text=true&width=500“

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