Reportage: Zwischen Chillen, Gewalt und Angst – eine Nacht am Bielefelder Kesselbrink

Bielefeld. &bdquo;Ich kenne hier alle auf dem Kesselbrink“, sagt Amir (alle Namen sind geändert). &bdquo;Einige von denen sind richtig gefährliche Typen.“ Er sagt diesen Satz in aller Seelenruhe, denn die Probleme an Bielefelds umstrittensten Innenstadttreffpunkt sind für ihn allabendliche Routine. Auch am Samstagabend ist der Platz angesichts frühsommerlicher Wärme gut besucht. Amir ist 19 Jahre alt. Er ist Dauergast auf dem Kesselbrink. Hier trifft er Freunde, hier hört er Musik, flirtet mit den Mädchen und chillt. Doch so gechillt ist die Lage nicht immer. Es ist 21 Uhr. Die Türkei hat bei der Fußball-EM gerade eine Niederlage gegen Portugal kassiert. Trotzdem kreisen vereinzelte Fahrzeuge mit Türkei-Fahnen und großem Hup-Bedürfnis rund um den Platz. Der Spielplatz und die Fitnessgeräte sind noch von Familien bevölkert. Plötzlich wird es laut vor dem Grünen Würfel. Zwei Gruppen Jugendlicher beschimpfen sich, beleidigen sich, schubsen. Schließlich kommt ein Familienvater dazu. Einer seiner Söhne gehört zu den Streithähnen. Er hat offensichtlich kein Interesse, die Lage zu beruhigen, schreitet ein. Dann geht es ganz schnell. Er verfolgt zwei Jugendliche quer über den Platz, holt sie ein und verpasst beiden einen Faustschlag ins Gesicht. Anschließend schiebt er mit dem Kinderwagen ab und sucht das Weite. Zurück bleiben zwei sichtlich lädierte junge Männer. Einer blutet an der Schläfe, bei dem anderen schwillt ein Auge zu. Kurz darauf trifft die Polizei mit zwei Streifenwagen ein. Die vermöbelten Jungen haben die Polizei nicht gerufen. Aber jetzt erstatten sie trotzdem Anzeige. Auch Gewalt gegen Sicherheitspersonal: Jeder Tag ist ungewiss Wer es war, das wissen sie. Hier kennt jeder jeden – zumindest die Stammgäste kennen sich untereinander. Nebenan spielen die Kinder wieder Fußball oder klettern am Spielgerät empor. Ein Mann aus Oerlinghausen fragt erstaunt: &bdquo;Ist das hier immer so? Scheint hier ja wild zuzugehen.“ Ihm sei zwar eine beeindruckende Haschisch-Wolke in der Luft aufgefallen, das sei aber eher kein Grund für solche Aggressionen. Ein Sicherheitsmann hat die Entstehung des Streits am Kesselbrink miterlebt: &bdquo;Die sind selbst schuld – so wie die rumgepöbelt haben.“ Er erlebe solche Aggressionen hier immer wieder. Er selbst sei auch schon in Prügeleien hineingezogen worden. &bdquo;Der Typ ließ sich nicht mehr beruhigen. Was hier am Kesselbrink los ist, ist manchmal echt schlimm“, sagt er. Die Polizisten am Einsatzort berichten später, dass der Streit zwischen den Gruppen bereits bei McDonalds am Jahnplatz begonnen hatte. Dort habe man sich zunächst verbal gefetzt. Die beiden Opfer sind 16 und 18 Jahre alt. Sie wollen aber nicht über den Vorfall sprechen. &bdquo;Das war nur eine kleine Auseinandersetzung“, sagt der eine und geht davon. Ein Freund berichtet später: &bdquo;Es fing an mit ,Was guckst Du mich so an?’“ Mehr braucht es hier offensichtlich nicht, damit der Kessel überkocht. Zwischen Volksbank, Würfel und Wilhelmstraße stehen die Unsichtbaren Der Kesselbrink ist abends fast wie ein Schulhof. Jede Gruppe hat ihre Ecken. Die Trinker sitzen auf Höhe des Wasserspiels. Sie bleiben unter sich. Wenn mal Streit entsteht, dann untereinander. Die Familien sind rund um die Spielgeräte verteilt. Zwischen Volksbank, Wilhelmstraße und Grünem Würfel stehen die &bdquo;Unsichtbaren“, wie eine Insiderin sie nennt. Die lungern die ganze Zeit in dunklen Nischen, verstecken sich, sind aber sofort da, wenn sie Drogen verkaufen können – Haschisch oder Koks. Selbst ziehen sie sich manchmal Lachgas rein. Immer wieder komme es zu wüsten Schimpftiraden unter ihnen. Amir nennt sie &bdquo;die Marokkaner“. Gut kennen könne man die hier nicht. Ständig kämen Neue und die anderen verschwänden wieder. &bdquo;Wenn einer hier Scheiße baut, ist er sofort weg und taucht in einer anderen Stadt auf.“ Er berichtet, dass sie sich manchmal als Gruppe zusammenfinden und dann ältere Passanten bestehlen oder ausrauben. Amir nickt. Er hat nicht viel übrig für &bdquo;die da“: &bdquo;Wir Afghanen stehlen nicht. Das ist haram, der Islam verbietet uns das.“ &bdquo;Gewalt, Diebstahl, sexuelle Nötigung, man weiß nie, was heute droht“ Inzwischen wird es dunkel. Zwei Sicherheitsmänner haben am Kiosk vor der Volksbank Position bezogen. Einer von ihnen ist Dragan (51), langjähriger Türsteher, Respekt einflößende Statur, dunkle ruhige Stimme. Als Subunternehmer für eine Bielefelder Sicherheitsfirma hat er mit seinem Team die Aufgabe, den Volksbank-Vorplatz sicher zu machen. &bdquo;Seit einem halben Jahr sind wir hier. Jetzt ist es hier deutlich sauberer“, sagt er und zeigt auf den Vorplatz. Vorher soll es hier wüst ausgesehen haben. Aber die Prügeleien könnten auch sie nicht verhindern. &bdquo;Die Marokkaner“ stünden oft selbst unter Drogen, seien dann unberechenbar. &bdquo;Gewalt, Diebstahl, sexuelle Nötigung, da weiß man nie, was heute droht.“ Neulich seien hier Rocker mit Kontakten nach Amsterdam und Rotterdam aufgetaucht – mit Baseballschlägern. &bdquo;Das war eine üble Massenschlägerei.“ Er vermutet, dass es um Drogenreviere ging oder unbezahlte Rechnungen. Zum Beweis zeigt er auf eine zerschmetterte Panzerglasscheibe am Volksbankgebäude. Er selbst sei viermal angegriffen worden. &bdquo;Das hat aber aufgehört. Die haben gelernt“, sagt er und zwinkert. Dabei dürfe er sich als Security-Mitarbeiter nicht einmal bewaffnen. &bdquo;Die haben Messer, benutzen abgeschlagene Glasflaschen und stechen damit zu. Und ich darf nicht einmal ein Pfefferspray benutzen.“ Auch sein Privatwagen sei schon mehrfach beschädigt worden. Ein junges Mädchen habe ihm seinen frisch lackierten Wagen &bdquo;maximal zerkratzt“. &bdquo;Die stand völlig unter Drogen.“ Der Kiosk-Mitarbeiter hofft auf eine Dauerstreife der Polizei Kiosk-Mitarbeiter Adam (58) ist froh, dass die beiden Sicherheitsexperten zumindest bis 23 Uhr in der Nähe sind und im Ernstfall auch vor seiner Tür für Ruhe sorgen können: &bdquo;Es ist schlimm manchmal. Ich rufe ständig die Polizei.“ Wenn die Massenprügeleien beginnen, schließe er sich sofort ein. Oft genug hätten sich die Gruppen mit seinen Flaschen aus dem Kühlschrank bewaffnet. Fürs Geschäft sei das nicht gut, sagt er. Außerdem werde bei ihm viel geklaut. Adam weiß, warum die das machen: &bdquo;Die haben kein Geld. Die verdienen ihr einziges Geld mit den Drogen oder indem sie Leute auf der Straße ausnehmen.“ Alles andere interessiere die nicht. Er sagt: &bdquo;Hier müsste eigentlich dauerhaft ein Polizeiwagen stehen oder ein Motorradpolizist über den Platz fahren.“ Das Ordnungsamt sei zwar manchmal hier, greife aber auch nicht ein, wenn die Prügeleien beginnen. Die bleiben dann im Auto sitzen. &bdquo;Die Polizei ist sehr fleißig und immer bemüht uns zu helfen“, sagt Adam. Aber manchmal dauere es, bis die Beamten endlich da sind. Dragan glaubt, dass dieses Problem, das sich ja längst nicht nur am Kesselbrink zeige, erst lösen lasse, wenn die Politik endlich durchgreife. Anm. d. Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes, war an dieser Stelle auch Kritik an der Polizei zu lesen. Der Kiosk-Mitarbeiter betonte, dass er diese Kritik nie geäußert habe. Die Textpassage wurde daraufhin gelöscht. Auch das ist Kesselbrink: Afrikanische Musik, Lachen, gute Stimmung Auf die Frage, ob Adam Angst hat bei seinem nächtlichen Job, sagt er ganz klar: &bdquo;Ich habe keine Angst vor denen. Ich kenne die alle. Aber die übrigen Leute hier haben alle Angst.“ 22 Uhr: Die Stimmung auf dem Platz wird ruhiger. Die Gruppen können sich noch besser zurückziehen. Auf der großen Freifläche haben sich Studenten breitgemacht, werfen sich einen Ball zu. Drei polnische Bauarbeiter haben sich einen Platz auf den Sitztreppen auf Höhe des Parkhauses gesucht. Sie sind erst seit einer Woche in Bielefeld und genießen die laue Sommernacht, ihr Bier und die Stimmung. Der Stress am Rand des Platzes ist hier gar nicht mehr zu spüren. Eine Familie hat kurz vor der Skateranlage ein großes Picknick aufgebaut, es läuft afrikanische Musik, es wird gelacht. Plötzlich wieder Schläge und Kickbox-Tritte Die meisten der Menschen auf diesem weitläufigen Platz sind freundliche, gelassene Menschen. Sie lächeln, sagen Hallo. Sie erfüllen den Platz mit positivem Leben. Andere, die auch &bdquo;Hallo“ sagen, wollen allerdings nur wissen, ob man Drogen haben wolle. Auch Kinder bekommen hier ihren Rausch. Und wieder andere bringen deutlich zu viel Leben ein. Lesen Sie auch: Drogen-Razzia am Kesselbrink: Polizei stoppt Verkauf an Kinder Plötzlich taucht der Schlägervater von vorhin wieder auf. Die Verprügelten und ihre Freunde sind natürlich auch noch da. Und sie haben eine Stinkwut – zeigen das auch, in der Gruppe sind sie wieder stark. &bdquo;Du schlägst hier Kinder“, ruft einer der Wortführer. &bdquo;Du schlägst meinen Bro.“ Parallel fliegen Fäuste, Kickbox-Tritte in Richtung Kopf. Die Gruppe geht aggressiv auf den einzelnen Mann los. Der bleibt erstaunlich gelassen, wehrt die Angriffe weitestgehend ab, zieht sich dann aber wieder zurück. Bielefelder rechnet mit Massenschlägerei Dragan ahnt Böses: &bdquo;Die kommen wieder. Das gibt heute noch eine Massenschlägerei. Die holen jetzt ihre Jungs.“ Vieles, was sich hier abspielt, tut Dragan mit männlichem Imponiergehabe ab. Die wollen &bdquo;harte Eier“ zeigen, wollen sein wie die Gangster, die sie aus dem Fernsehen kennen. Manchmal gehe es auch nur um unterschiedliche Ansichten zwischen Christen und Muslimen. Es braucht hier keine schweren Konflikte, damit die Zündschnur brennt. Auch Amir kennt alle Protagonisten. Er sagt: &bdquo;Der Vater und sein Sohn, die sind so drauf. Der Sohn will immer Stress.“ Er selbst habe auch schon viel Mist gebaut. Aber nach dem dritten Jugendarrest hat er sich gesagt: &bdquo;Das kann so nicht weitergehen. Seitdem halte ich mich aus diesen Streitereien raus.“ Das Problem sei, dass die gefährlichen Typen seine Erfahrungen, der mit dem Arrest gemacht hat, nie machen werden. &bdquo;Die sind schneller hier wieder weg, als die Polizei gucken kann.“ Der Junge ohne Lungenflügel ist auch wieder da Um 22.25 Uhr gehen die großen Licht-Stelen an. Der Platz wird nun heller. Dunkle Ecken gibt es aber immer noch zur Genüge. Hinter dem Kiosk ist irgendetwas im Busche. Die üblichen Verdächtigen laufen alle los, in einen Hinterhof zwischen Wilhelm- und Friedrich-Verleger-Straße – ein perfekter Rückzugsort. Hier steht in einer Nische eine Gruppe Jugendlicher (Mädchen und Jungen). Es wird gequatscht und geflirtet. Die Männer sind schon wieder verschwunden. Falscher Alarm. Für die Anwohner der Wohnungen zu diesem Innenhof sind die ständigen Auseinandersetzungen eine schwere Belastung. Sie klagen zumindest über Lärm, aber auch über den Verlust ihres Sicherheitsgefühls vor der eigenen Haustür. Lesen Sie auch: Massenschlägerei im Hinterhof: Nachbarn klagen über nächtliche Randale an Bielefelds Kesselbrink Im Oktober 2023 verlor ein 18-jähriger Afghane einen Lungenflügel, nachdem ihm ein Algerier (21) ein Messer in den Rücken gerammt hatte. In akuter Lebensgefahr kam der 18-Jährige ins Krankenhaus, wo ihm die Ärzte mit einer Not-OP in letzter Sekunde das Leben retteten. Anlass war angeblich ein gestohlenes Handy. Der 18-Jährige hatte angegeben, es nach dem Diebstahl dem Täter wieder abgenommen zu haben. Der hatte daraufhin mit einem seiner drei Messer zugestochen. Stress zwischen Afghanen und Algeriern endet mit Bluttat In der Gerichtsverhandlung deutete sich an, dass dem Vorfall möglicherweise eine kompliziertere Vorgeschichte vorausgegangen war – von &bdquo;unfreundlichen Aufeinandertreffen zwischen algerischen Landsleuten und den afghanischen Freunden des späteren Opfers“ war die Rede. Wieder blieb die Frage nach dem Motiv unbeantwortet. Und? Hat sich der 18-Jährige von der Szene abgewandt? Kiosk-Mitarbeiter Adam kennt ihn: &bdquo;Nein, er ist auch heute wieder hier“, sagt er. &bdquo;Aber ihm geht es noch gar nicht gut.“ Um 23 Uhr verschwindet das Security-Duo vor der Volksbank. Ihr Job ist erledigt. Die Gruppen kommen zur Ruhe. Viele spielen Musik aus ihren mobilen Boxen. Einer der Trinker tanzt zur arabischen Popmusik neben dem Kiosk. Die Jungs lachen. Die Anspannung unter ihnen scheint abzufallen. Vielleicht passiert in dieser Nacht doch nichts mehr. Eines von vier Mädchen neben der Boule-Bahn sagt: &bdquo;Ich geh jetzt Kiosk.“ Denn am Kiosk vor der Volksbank kommen früher oder später alle Gruppen zusammen. Die meisten wollen einfach nur Chillen auf dem größten &bdquo;Schulhof des Lebens“ in der Innenstadt. Wer hier täglich abhängt, weiß, welchen Typen man aus dem Weg gehen muss. Denn nicht alle auf diesem Schulhof kommen miteinander klar. Lesen Sie auch: Alle Berichte über den Kesselbrink

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