Bielefeld. Lange habe Karen Gershon überlegt, wie sie ihre Kindheit und Jugend in den 1930er Jahren in Worte fassen könnte. Aus der Ich-Perspektive habe sie nicht schreiben wollen, dennoch sollte es eine Autobiografie werden. Geboren als Käthe Löwenthal schrieb sie in ihrem 1992 auf Deutsch erschienenen Buch „Das Unterkind“ über die kleine Käthe. Die Jüdische Gemeinde Bielefeld hatte zu einer Lesung des Buchs in die Synagoge Beit Tikwa eingeladen.
Vorgelesen hatte Axel von Ernst. Der Mitgründer des Lilienfeld-Verlags freute sich über diesen „besonderen Fund“.
Der Verlag habe es sich zur Aufgabe gemacht, Literatur aus dem 19. und 20. Jahrhundert in ansprechenden Ausgaben neu aufzulegen und so wieder unter die Leser zu bringen. So auch „Das Unterkind“, das im August 2023, zum 100. Geburtstag Karen Gershons, neu erschienen war.
Neben der historischen Bedeutung des Buches, das das Aufwachsen eines jüdischen Mädchens in Bielefeld in den 1930er Jahren beschreibt, mache besonders auch die Ehrlichkeit Gershons das Werk aus. In der Lesung gab von Ernst Einblicke in ein Buch, das von der Ehrlichkeit und Offenheit der Autorin über die Gefühle und Gedanken der jungen Käthe, eines ganz normalen Mädchens, lebe. Auf nahbare Weise werden Geschwister-Rivalitäten, Verliebtheitsgefühle und das Verhältnis zu und zwischen den Eltern thematisiert.
Aufgewachsen als Tochter des Bielefelder Architekten Paul Löwenthal und der Tochter des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Selma Löwenthal, genossen Käthe und ihre zwei älteren Schwestern ein gutbürgerliches Leben in Bielefeld.
Gershons Vater war Architekt des Kachelhauses
Paul Löwenthal hatte im Auftrag von Wilhelm Harms das berühmte Kachelhaus in Bielefeld erbaut. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten kam jedoch der Abstieg der Familie. Anschaulich beschreibt Gershon die Diskriminierung und Ausgrenzung sowie die Bedrohlichkeit ihrer Situation bis hin zu den November-Pogromen im Jahr 1938.
Karen Gershon war im Jahr 1993 in England verstorben, noch bevor „Das Unterkind“ in der Originalsprache Englisch herauskam. Das Buch enthält ein Nachwort ihrer Tochter Naomi Shmuel.

Irith Mendelsohn, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Bielefeld, nutzte die Gelegenheit, um auf den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am (heutigen) 27. Januar aufmerksam zu machen. An diesem Tag, im Jahr 1945, hatten sowjetische Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Auch appellierte die Vorsitzende daran, ein Zeichen gegen rechts zu setzen und an der Demo auf dem Jahnplatz am kommenden Dienstag, 30. Januar, teilzunehmen. Es sei wichtig, nicht nur ein Zeichen gegen Antisemitismus, sondern auch gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie zu setzen. Mit den Worten „Bleiben Sie gesund und bleiben Sie demokratisch“ schloss Irith Mendelsohn den Abend.