"Jede verdammte Nacht": Bielefelderin erlebt den absoluten Horror

Bielefeld. Andrea T. ist 51 Jahre alt. In ihrer Kindheit hat sie unter ihrem exzessiv trinkenden Vater gelitten: &bdquo;Wir bekamen zu Hause mehr Schläge als Nahrung.“ Mit acht Jahren zeigte der Familientyrann der Stieftochter erstmals, wie sie &bdquo;als Frau zu funktionieren hat“. Auf jahrelangen Missbrauch folgte ihre Flucht aus der Hölle, doch das Leben im Heim und später auf der Straße brachten weitere Schicksalsschläge. Einen Rückhalt hatte sie nie. Es dauerte lange, bis Andrea T. über die Taten sprechen konnte. Heute hat sie auch mit Hilfe einer Therapie ihre seelischen Verletzungen hinter sich gelassen und fühlt sich stark genug, um nun anderen Betroffenen zu helfen. Deshalb geht sie nun mit ihrer Geschichte in die Offensive. &bdquo;Mein ganzes Leben lang belastet mich meine Kindheit und Jugend“, sagt die 51-Jährige heute. &bdquo;Ich möchte sie erzählen, um allen, denen Ähnliches passiert ist, Mut zu machen, darüber zu sprechen.“ T.s Familie lebte auf dem Dorf. Dort sei die Arbeiterfamilie als &bdquo;asozial abgestempelt“ gewesen. Der Alkohol hatte seine Wirkung auf die Erwachsenen und indirekt auch auf die Kinder: &bdquo;Ich wurde Stinki genannt.“ Als T. zwei Jahre alt war, verließ ihr Vater die Familie. Damit Andrea und die anderen Kinder nicht ins Heim mussten, habe der Bruder des Vaters die Rolle des Familienoberhaupts übernommen. Er heiratete seine Schwägerin. &bdquo;Mein Stiefvater war exzessiver Trinker und ein Tyrann. Meine Mutter durfte nur reden, wenn er ihr befahl zu reden.“ Bielefelderin berichtet: "Er kam jede verdammte Nacht" Eines Nachts – Andrea war gerade acht Jahre alt – stieg er das erste Mal in ihr Bett. &bdquo;Ich war schüchtern und hatte Angst, mich zu wehren. Er kam jede verdammte Nacht wieder.“ Mit 14 Jahren wurde sie schwanger. Vor der Abtreibung erzählte der Stiefvater der Frauenärztin einfach, dass sie nicht aufgepasst habe. Mitte der 1980er Jahre – Andrea T. hatte sich in ein Heim für schwer erziehbare Kinder stecken lassen – war sie endlich soweit, den Täter anzuzeigen. &bdquo;Ich hatte gehört, dass er inzwischen seine leiblichen Töchter als Ersatz nahm.“ Doch ihre Anzeige verlief im Sande. Damals brauchte es die Unterschrift des Erziehungsberechtigten: &bdquo;Kein Vergewaltiger unterschreibt solche Vorwürfe“, sagt die Bielefelderin heute verbittert. &bdquo;Er sagte den Polizisten, dass ich mir alles ausgedacht habe. Damit war der Fall erledigt.“ Lieber in Bielefeld auf die Straße als zurück zum Täter Hat sie sich alles ausgedacht? Um dies nach so vielen Jahren zu belegen, hat Andrea T. extra ihre Psychotherapeutin von ihrer Schweigepflicht entbunden. Und die sagt auf Anfrage: &bdquo;Ihre Darstellungen sind glaubhaft, das hat sich in der Konfrontationstherapie sehr deutlich gezeigt.“ Viele Menschen damals glauben T. nicht. Die Familie ließ sie fallen. Selbst bei &bdquo;Pro Familia“ seien ihr Fragen gestellt worden, die ihr immer eine gewisse Mitschuld unterstellt hätten. Nach dem Motto: &bdquo;Hast Du ihn provoziert?“ Andrea T. brach die Gespräche ab. Zum Thema: Hier gibt es in Bielefeld schnelle Hilfe für sexuell belästigte Frauen Mit 18 Jahren war die Zeit im Heim vorüber. Sie sollte zur Mutter und damit auch wieder zum Stiefvater zurückziehen. &bdquo;Ich habe das Leben auf der Straße vorgezogen. Ich dachte: Lieber sterbe ich auf der Straße als dorthin zurückzukehren.“ Drei Jahre lang lebte T. auf Bielefelds Straßen – ohne Dach über dem Kopf. Als sie im Winter schwanger wurde, verlor sie ihr Kind (plötzlicher Kindstod). &bdquo;Das war schlimm. Aber es hat mich wieder auf die Spur gebracht.“ Wegnahme der Kinder verursacht ihren tiefsten Schmerz Die junge Frau kämpfte sich mit Gelegenheitsjobs durch, lebte vorübergehend in Frauenhäusern, irgendwann verdiente sie genug für eine eigene Wohnung. Mit 26 wird T. Mutter einer Tochter und sieben Jahre später ein zweites Mal. Doch das Glück steht der Bielefelderin weiterhin nicht zur Seite. Beide Töchter werden vom Jugendamt in Obhut genommen. Es ist der tiefste Schmerz, den die 51-Jährige in ihrem großen Rucksack inzwischen mit sich trägt: &bdquo;Die haben befürchtet, dass aus einem Opfer wie mir eine Täterin wird.“ Die Behörde sah in beiden Fällen das Kindeswohl gefährdet. T. erlitt dadurch ein weiteres schweres Trauma. &bdquo;Ich bekam nichts mehr alleine auf die Reihe, war dünnhäutig und aggressiv. Meine Angst, wieder obdachlos zu werden, war riesig.“ Alkoholgeruch als Trauma-Trigger Alkohol hat Andrea T. immer begleitet, aber nicht als Fluchtmittel, sondern als Vermittler des Ekels: &bdquo;Ich kann bis heute kein Bier auf meiner Haut ertragen, keinen Kuss mit Fahne.“ Der Geruch ist ein Trauma-Trigger aus frühester Kindheit. &bdquo;Heute trinke ich mal eine Whiskey-Cola-Dose, dafür brauche ich aber auch drei Stunden.“ Als Andrea T. mit 30 merkt, dass sie den Gedanken an die Übergriffe gewachsen ist, ist sie endlich zur Therapie bereit. Endlich bricht sie ihr Schweigen, doch eine Strafverfolgung ist nicht mehr möglich. Der Fall ist längst verjährt. Erst seit 2015 wurde das Gesetz verbessert. Seitdem beginnt die Verjährungsfrist von Sexualstraftaten (in diesem Fall von 20 Jahren) erst mit Ende des 30. Lebensjahres. Wichtig für die Opferentschädigung: Frauenärztin bestätigt die Abtreibung von einst Andrea T. macht ihren Hauptschulabschluss nach und schafft 2004 sogar die Mittlere Reife – &bdquo;mit einen Notenschnitt von 2,5“, betont sie stolz. Ein Riesenerfolg. Auf dem 1. Arbeitsmarkt habe sie dennoch keine Chance. Das weiß die 51-Jährige. Sie arbeitet derzeit bei proWerk als Tontechnikerin für den Blindenservice und ist zufrieden. Nur eine Wohnung sucht sie aktuell noch dringend. Erst vor Kurzem hat die Frauenärztin von damals die Abtreibung bestätigt und auch, dass die Angaben des Erziehungsberechtigten nicht glaubhaft gewesen seien. Ein wichtiger Punkt, weil diese Aussage Andrea T. eine Hilfszahlung durch den Opferschutzverein Weißer Ring ermöglichte. Denn ein Strafverfahren gab es ja nie. Auch eine Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz strebe sie an: &bdquo;Das alles hilft viel.“ Der Täter hatte sein Leben - Die Bielefelderin verlor ihr Leben, bevor es begann Doch Andrea T. will sich nicht mehr als Opfer definieren: &bdquo;Ich fange jetzt an, meine Lebensgeschichte zu erzählen.“ Sie will endlich gesehen werden. Jahrzehntelang lebte sie im Schatten. Der Täter lebte sein Leben, Andrea T. aber hatte ihr Leben schon verloren, bevor es richtig begann. Trotzdem hat sie sich nicht unterkriegen lassen. Auf dem Kesselbrink ist sie schon lange eine anerkannte Persönlichkeit. Dort ist sie bekannt dafür, dass sie Streit gut schlichten kann. Und sie kann zuhören. Und diese Eigenschaft will sie zum Helfen nutzen: &bdquo;Ich möchte anderen Mut machen, darüber zu reden.“ Nach einem Gespräch mit einem Mädchen mit ähnlicher Vergangenheit sei diese in Tränen ausgebrochen. Sie sagte: &bdquo;Danke, dass Du mir Deine Geschichte erzählt hast. Uns darf keiner mehr weh tun.“ T.s Psychotherapeutin, die ihr mutiges Vorhaben, an die Öffentlichkeit zu gehen, als einen der letzten wichtigen Schritte ihrer Therapie bezeichnet, erklärt ihr großes Herz so: &bdquo;Andrea T. hat eine sehr schöne Seele. An diesen Kern ihrer Persönlichkeit konnte der Täter nie vordringen.“ Die 51-Jährige sagt heute: &bdquo;Je mehr Schläge ich kriege, desto stärker werde ich.“ Wer mit Andrea T. ins Gespräch kommen möchte, wendet sich per Mail an die Redaktion unter jens.reichenbach@nw.de. Die Mail wird an direkt sie weitergeleitet. Hier gibt es Hilfe im Notfall: Frauennotruf Bielefeld Mädchenhaus Bielefeld Wildwasser-Beratungsstelle für Opfer sexualisierter Gewalt Psychologischen Frauenberatung Feministisches Netzwerk Bielefeld

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