"Soll das ein Scherz sein?": Stadt Bielefeld zwingt Schülerin zu extralangem Schulweg

Bielefeld. Perfekt: Kita, Grund- und Realschule, Gymnasium und Sportvereine - alles vor Ort und zu Fuß erreichbar. Ein Grund, warum die alleinerziehende Mutter Corinna Theele vor zwei Jahren mit ihren beiden Kindern nach Heepen gezogen ist. Leider muss ihre ältere Tochter Henja (10) jetzt aber jeden Tag quer durch die Stadt gurken, statt zu Fuß zur Realschule Heepen gehen zu können. Die Familie ist nicht die einzige, die "ausbaden muss, was Politik und Stadtverwaltung verbockt haben", wie eine andere Mutter, die anonym bleiben möchte, sagt. Das sei einfach gemein, sagt Theele. Und dabei könnte es so schön einfach sein. "Die Politik will ja auch, dass alle mehr zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren", sagt Theele. Das würde ihre Tochter liebend gern. Die Familie wohnt nur knapp zehn Minuten Fußweg von der Realschule Heepen entfernt. Aber nicht nur dort waren die Plätze so knapp, dass Kinder wie Henja jetzt jeden Tag einen langen Fahrtweg haben, um eine Realschule besuchen zu können. Gesamtschule als Alternative Nachdem sie von ihrer Wunschschule aufgrund fehlender Kapazitäten abgelehnt wurde, hat Henja dann letztendlich einen Platz an der Gertrud-Bäumer-Realschule im Bielefelder Westen bekommen. Mit der Absage habe die Stadt erst die Realschule Senne als Alternative vorgeschlagen. Das könne wegen der Entfernung aber doch wohl nur ein Scherz sein, sagt Theele. Auch zwei Gesamtschulen seien als Möglichkeit aufgeführt worden. Aber das sei für Henja einfach nicht die passende Schulform, hätten auch ihre Grundschullehrer eindeutig gesagt. Statt um 7.45 Uhr ganz entspannt losgehen zu können, muss Henja jetzt jeden Morgen mit dem Bus um 6.59 Uhr zehn Stationen zum Jahnplatz fahren, dort dann in die Stadtbahn umsteigen. Wenn der Bus an ihrer Haltestelle ankomme, sei er immer schon proppevoll. "Wir müssen uns dann immer noch irgendwie reinquetschen, einen Sitzplatz bekommt man eh nicht", berichtet Henja. Die Fahrt sei nicht angenehm. Und auch Treffen mit den neuen Klassenkameraden seien aufgrund der Entfernung zeitaufwendiger und komplizierter. "Abends würde ich Henja auf jeden Fall nicht mehr alleine am Jahnplatz in den Bus steigen lassen", ergänzt Theele. Zahlen spiegeln nicht den tatsächliche Elternwillen bei der Schulwahl wider Seit Jahren kritisieren Elternvertreter immer wieder, dass Politik und Stadtverwaltung die Realschulen bei der Schulentwicklungsplanung nicht ausreichend berücksichtigen. Trotz steigender Schülerzahlen ist dort grundsätzlich nicht geplant, die Kapazitäten zu erweitern. Von der Schulverwaltung waren zuletzt für die Realschulen stets auskömmliche Zahlen vorhergesagt worden. "Das liegt aber unter anderem auch mit daran, dass die Zahlen in der Schulentwicklungsplanung auf Basis der Schülerzahlen zum Stand Oktober berechnet werden", bemängelt der schulpolitische Sprecher der FDP, Jan-Maik Schlifter. Diese spiegelten aber nicht den tatsächliche Elternwillen bei der Schulwahl wider. Um den zu sehen, müsse man die Zahlen nach der ersten Anmeldung zugrunde legen. Da seien sie deutlich höher. "Bevor Eltern ihr Kind dann zu einer Realschule am anderen Ende der Stadt schicken, wählen viele alternativ doch noch einen Platz an einer Gesamtschule in der Nähe", ergänzt Schlifter, der sich immer wieder für weitere Realschulplätze stark gemacht hat. So war es auch bei ihnen, berichtet eine andere Mutter aus Heepen. "Wir haben auch leider keinen Platz hier an der Realschule im Ort bekommen, unsere Tochter geht jetzt auf die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Gesamtschule." Das sei zwar kürzer als beispielsweise zur Gertrud-Bäumer-Schule, aber auch ihr Kind müsse jetzt mit dem Bus fahren. "Und wir müssen jeden Monat zwölf Euro Eigenanteil für das Ticket bezahlen, obwohl es für uns ja viel besser gewesen wäre, wenn sie hier zur Realschule zu Fuß hätte gehen können." Das geht Familie Theele genauso. Regelrechter Run auf die Bielefelder Realschulen Zu diesem Schuljahr gab es einen regelrechten Run auf die Bielefelder Realschulen. Mit 909 Anmeldungen war die Schulform die beliebteste bei den städtischen Schulen. Stadtweit gab es 45 mehr Anmeldungen als Plätze. Um die 45 fehlenden Plätze zu sichern, richtete die Stadt zum jetzt gestarteten Schuljahr 2023/24 jeweils eine zusätzliche fünfte Klasse an der Realschule Heepen, der Realschule am Schlehenweg und der Gertrud-Bäumer-Realschule ein. Aufgrund der hohen Anmeldezahlen - an der Realschule Heepen waren es 187 bei 135 Plätzen inklusive der Mehrklasse - mussten trotzdem noch Schulen Kinder abweisen. So auch die beliebte Luisenschule (172 Anmeldungen, 108 Plätze). Dort durfte jetzt keine Mehrklasse gebildet werden, weil dies in den Vorjahren mehrfach in Folge gemacht wurde. Ein eigentlich angezeigter Ausbau auf eine Fünfzügigkeit wurde von der Verwaltung nicht geplant. Dass einige Familien nach der Absage ihrer Wunschrealschule vor Ort dann doch zu einer anderen Schulform umschwenken, zeigen die aktuellen Zahlen: 909 Kinder wurden in diesem Jahr erst einmal an einer Realschule angemeldet, vermeldet die Stadt nach den Hauptanmeldetagen (Stand 23. Februar). Wirklich besuchen jetzt allerdings nur noch 869 Fünftklässler diese Schulform. Die städtischen Gesamtschulen hingegen hatten insgesamt Ende Februar laut Zahlen der Stadt 406 Anmeldungen, verzeichnen jetzt aber insgesamt 477 Schüler.

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