Drogen in Bielefeld: Experten sprechen von Preisverfall bei Crack und Kokain

Bielefeld. Michael Wiese (71) und Cornelia Borgmann (65) haben ihre Aufgaben als Geschäftsführung beim Verein Drogenberatung abgegeben – sie blicken jetzt auf Jahrzehnte zurück. Auf Probleme, auf Erfolge. Und auf Sisyphos. Zusammenaddiert waren sie fast 75 Jahre im Verein aktiv. Wenn ich mit meinen Töchtern, 17 und 20 Jahre alt, aufs Thema Drogen schaue, wo muss ich mir welche Sorgen machen? Cornelia Borgmann: Ganz ehrlich, wenn Sie Töchter haben, die gute Kontakte haben, mal Party machen . . . Michael Wiese: . . . und stabil sind, mit Werten erzogen . . . Borgmann: . . . dann würde ich mir gar keine Sorgen machen. "Dann keine Sorgen machen" Ach? Borgmann: Natürlich gibt es Gefährdungen, ja – KO-Tropfen und so, aber da gibt es doch längst eine gute Aufklärung. Wiese: Ich bin ja auch Vater, kenne das also – aber wenn Kinder gelernt haben, reflektiert Ja und Nein zu sagen, es Kinder sind, die sich nicht verbiegen, dann müssen Sorgen nicht sein. Zum Leben gehören auch Experimente, das macht stabiler. Borgmann: Man schaut immer auf harte Drogen, aber was ist mit Autofahren, was mit Alkohol, was mit riskanten Lebenssituationen, warum haben wir da kaum Sorgen, obwohl die Risiken größer sind? Was wäre da vor 30, 40 Jahren anders gewesen? Wiese: Da hat sich nicht viel verändert, das Lernen aus Erfahrung ist ein Muss. Die Umwelt aber ist schwieriger geworden, es stürmt viel mehr ein auf Jugendliche. Borgmann: Alleine im Studium herrscht ein enorm großer Erfolgsdruck. Manche konsumieren dann Medikamente, nicht unbedingt Drogen, nein, ganz legal vom Arzt verschriebene Sachen. Oder Cannabis, weil das entspannt und beruhigt. Und Medien, als Ausgleich: Online-Spiele und Social Media. Medienkonsum und Glücksspielsucht Wiese: Die Welt war früher überschaubarer, der Druck in der Bildung niedriger – und wenn ich auf Themen wie Medienkonsum und Glücksspielsucht schaue, so waren diese damals viel randständiger. Borgmann: Ja, es gibt eine viel größere Bandbreite. Wiese: Vieles hat sich aber auch verbessert, so die Drogenhilfeangebote. Was wir heute teilweise haben, war damals utopisch. Legalisierungsdebatten und Cannabis, Substitution, Drogenkonsumräume – die Hilfewelt hat sich verbessert, viele werden heute oft sehr alt. Welche Drogen sind es, die Ihnen aktuell die größten Sorgen bereiten – und warum? Borgmann: Kokain und Crack. Früher waren die kaum zu bezahlen, jetzt hat es einen Preisverfall gegeben, der Markt hat sich verändert. Kokain ist nach vorne gerutscht: Früher war es die Droge der Reichen und Partygänger, heute ist das nicht mehr so. Kokain wirkt harmloser als Heroin, aber dem ist nicht so. Wiese: Auch Crack ist ein größeres Thema als vor zehn Jahren, es schafft leider gesundheitlich sehr schlechte Zustände. Letztlich geht es immer um zwei Ebenen: die Substanz und die Verfügbarkeit. Wie sieht Drogenberatung da aus? Wiese: &bdquo;Was nützt mir, was schadet mir?“ – darüber würden wir am liebsten reden. Aber das Wort Drogenberatung in seinem Wortsinn ist leider nicht zu erfüllen. Ohne ideologische Restriktion wären wir viel weiter, weil wir beispielsweise einen Menschen ganz offen beraten könnten. Gab es einen Punkt, an dem Sie dachten, das halte ich nicht mehr aus, das Thema wird zu groß, es läuft aus dem Ruder? Wiese: Nein. Borgmann: Nein. Wiese: Ich bin hier tollen Menschen begegnet, keinen Monstern, sondern Menschen, die eben Probleme haben. In all den Jahrzehnten als Chefs der Drogenberatung – was waren Tief-, was Höhepunkte? Tiefpunkt war das Ermittlungsverfahren Wiese: Für mich war im Rückblick die Zusammenarbeit mit dem Team der Höhepunkt – und der Tiefpunkt war ganz eindeutig das Ermittlungsverfahren gegen mich, das war familiär sehr belastend, ich musste das Zuhause immer wieder einfangen, vor allem gegenüber meiner Tochter. (Anm.d. Red.: im Jahr 2000 wegen des Verdachts, Drogenhandel geduldet zu haben . . .) Borgmann: Gut ist, dass die Substitution freier geworden ist, die Menschen müssen dafür nicht mehr todkrank sein – und dass es Drogenkonsumräume gibt, das ist auch gut. Hat sich denn der Blick der Gesellschaft auf die Menschen und ihre Süchte verändert? Wiese: Einerseits gibt es in Teilen der Gesellschaft einen viel breiteren Konsens, viel weniger Aufgeregtheiten . . . Borgmann: Zum Teil ist der Blick weicher, zum Teil härter geworden. "Sehr große Aufgeregtheit" Wiese: Genau, und andererseits gibt es auf der Ebene einer Gefühlsdebatte eine sehr große Aufgeregtheit. Einige reden sehr statisch und despektierlich über Drogenabhängige, das wird diesen Menschen nicht gerecht, sie haben eine respektvollere Sprache verdient – denn Sprache macht da was, verändert Haltungen. Inwiefern? Wiese: Sprache radikalisiert Einstellungen. Borgmann: Und genau darin ist eine Gefährdung enthalten. Gefährdung? Borgmann: Ich habe den Eindruck, dass gerade wieder der ordnungspolitische Blick die Oberhand gewinnt, und je mehr Bedrohungen es gibt, desto mehr werden einfache Lösungen attraktiv, Lösungen im Sinne von Beseitigen, aus dem Stadtbild entfernen. Haben sich diese Menschen auch verändert – es ist von enorm gestiegener sozialer und psychischer Verwahrlosung zu hören? Wiese: In der Straßenszene hat die Verarmung zugenommen, materiell und immateriell. Borgmann: Schwierig. Es gibt immer mehr psychisch auffällige Menschen, die sichtbar werden – nicht alles hat mit Abhängigkeiten von Substanzen zu tun. Es spiegelt sich die Gesellschaft wider. Was halten Sie für die größten Herausforderungen für Ihre beiden Nachfolger? "Finanziell wird der Rückstoß kommen" Wiese: Wir haben 70 Festangestellte – erst jetzt, wo der Druck von mir abgefallen ist, merke ich, wie groß er ist. Vor allem, wie die Arbeitsplätze zu finanzieren sind. Zumal es bei den Finanzen schwieriger werden wird, der Rückstoß von Pandemie und Krieg wird kommen. Zudem droht die angesprochene Verschärfung des ordnungspolitischen Rahmens – und strengere Gesetze wären fatal. Es funktioniert so nicht, und es ist auch nicht ethisch. Borgmann: Wir müssen entkriminalisieren, nur so geht es. Wir brauchen einen guten Umgang mit Drogen, nicht Strafverfolgung und Druck. Wiese: Die größten Schäden verursacht die Kriminalisierung und nicht die Substanz, gepanschte Drogen und Diebstähle sind ein Problem. Die diskutierten Diamorphin-Praxen, der Hotspot &bdquo;Tüte“, das Ostmannturmviertel als Durchlaufquartier zum Drogenhilfezentrum an der Borsigstraße – bleiben das die Themen? Borgmann: Die Tüte wird immer Thema bleiben, das Ostmannturmviertel und der Kesselbrink wohl auch. Alles wiederholt sich immer wieder. Wiese: Wir sollten uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Orte ohne Lösungen, was rufen Sie der Stadtgesellschaft zu? Wiese: Ich vielleicht &bdquo;Auf Wiedersehen!“ Borgmann (lacht): Mehr Toleranz, bitte mehr Respekt im öffentlichen Miteinander! Wiese: Nein, ernsthaft, ich würde allen zurufen, dass es schön wäre, Aufgeregtheiten zu reduzieren, denn sie bringen keine Lösungen.

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