Bielefelder Experte erklärt: Darum hagelt es plötzlich Fünfen und Sechsen an den Gymnasien

Herr Gauls, es hagelt Fünfen und Sechsen am Gymnasium: Kinder, die es eigentlich viel besser könnten, sacken drastisch ab, berichten Bielefelder Schulleiter. Sie sehen eine Ursache in stark gestiegener Nutzung von Tiktok und Co. Wie ordnen Sie das ein? Frank Gauls: Das ist ein Riesenthema, aber auch nicht die einzige Ursache dafür, dass einige in der Schule stark abgesackt sind. Auch die Nachwirkungen der Pandemieeinschränkungen spielen eine Rolle. Ausgeuferte Mediennutzung beobachten wir zudem auch bei Studenten. Bei ihnen geht es vor allem um exzessives Schauen von Serien: Sie tauchen von morgens bis abends einfach komplett ab. Das Dilemma ist, dass es da, und bei Angeboten wie Tiktok, keine Begrenzung gibt. Über das Handy als Multifunktionstool stehen Inhalte rund um die Uhr zur Verfügung. Darunter leiden dann Schule und Studium. Viele Eltern scheinen überfordert – oder fühlen sich machtlos und wünschen sich nur eines: Eine Welt wie früher, ohne Handys und Co. Was sagen Sie dazu? Handys und Soziale Netzwerke gehören heute zum Leben dazu. Sie sind für die Jugendlichen ein wichtiges Instrument für die Kommunikation, die auch durchaus zeitintensiv sein kann. Die Gefahr der Mechanismen hinter Angeboten wie Tiktok und Co. ist, dass sich junge Menschen leichter ablenken lassen und als Folge weniger gut auf Lerninhalte konzentrieren können. Wir sehen auch, dass vielen Eltern die entsprechende Medienkompetenz fehlt. Wir haben gerade mit Experten aus ganz unterschiedlichen Disziplinen ein fachübergreifendes Memorandum erstellt rund um die Frage, wie eine gesunde Nutzung digitaler Medien gewährleistet werden kann und wie sie konkret da ihre Kinder begleiten und unterstützen können. Es steht kostenlos auf den Seiten des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) zum Download zur Verfügung. Warum lange anstrengen, wenn's kurz, bunt, knallig und entspannt geht? Schnelle Glücksgefühle, wie sie die bei vielen Schülern angesagte App Tiktok generiert, sind Gift fürs Lernen und die Leistungsbereitschaft. Hinzu kommt, dass es kein natürliches Ende gibt. Wie lässt sich da gegensteuern? Wirklich ganz wichtig ist, dass Eltern da frühzeitig Grenzen setzen und Nutzungszeiten einschränken. Je früher es klare Regeln gibt, desto besser. Wenn man da bei einem 16-Jährigen, bei dem der Medienkonsum oder auch das Gaming aus dem Ruder gelaufen ist, anfängt, ist der Zug abgefahren. Allerdings können viele Eltern die Gefahren auch nicht wirklich einordnen, das macht es nicht einfacher. Was ist mit Eigenverantwortung? Kann man die, wenn man die Tiktok-Mechanismen betrachtet, überhaupt bei Schülern erwarten? Das Gehirn ist bei Kindern und Jugendlichen noch nicht so entwickelt, dass sie den Impulsen so einfach widerstehen können. Sie benötigen Unterstützung, müssen kontrollierten Umgang lernen. Die Frage ist zudem: Was ist ursächlich für das Verhalten? Welche Alternativen biete ich an als Eltern? Oder läuft's im echten Leben irgendwie nicht so gut? In der Spielewelt hingegen gibt's schnell Erfolg und Anerkennung. Jugendliche, die sich in die virtuelle Welt flüchten, verspüren meist selbst keinen Leidensdruck, fühlen sich nicht einsam, weil sie dort auf Gleichgesinnte treffen. Allerdings bleiben wichtige Entwicklungsaufgaben, gerade was die Beziehungsebene angeht, auf der Strecke. Beispielsweise kann man später einen schwierigen Kollegen nicht einfach blocken. Einer Studie zufolge sind etwa 680.000 junge Menschen süchtig nach Computerspielen und sozialen Medien. Diese Zahl habe sich während der Corona-Pandemie mehr als verdoppelt, heißt es in einer aktuellen Untersuchung der Krankenkasse DAK und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Wie genau muss Medienkompetenz in der heutigen Zeit sein, damit die Nutzung bei Kindern und Jugendlichen nicht zu bösen Falle oder gar zur Abhängigkeit wird? Ich sehe die Studie sehr kritisch. Eine Frage bezieht sich beispielsweise auf Stress mit den Eltern wegen zu viel Social-Media-Nutzung. Wer hat das nicht? Aus meiner Sicht ist man deshalb nicht gleich süchtig. Oder auch nicht, wenn man viel Zeit am Handy verbringt. Die Frage ist, wofür genau man es nutzt. Aber bei einigen ist die Entwicklung schon erschreckend. Wir haben auch als Gesellschaft ein Riesenproblem, wenn sich die junge Generation komplett aus dem Leben schießt. Schon jetzt fehlen ja in vielen Bereichen Fachkräfte. Die Umsetzung der Digitalisierung dürfe nicht länger ein Blindflug sein, sondern müsse so gestaltet werden, dass Kinder nicht weiter auf der Strecke bleiben, sagt der Bielefelder Kinderarzt Uwe Büsching. Was ist aus Ihrer Sicht wichtig, gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Stadt beschlossen hat, alle Kinder an städtischen Schulen jetzt mit iPads auszustatten? Wichtig ist, dass Schüler lernen, sich die Medien so anzueignen, dass sie wirklich hilfreich sind. Und damit vernünftig umzugehen, eine kritische Distanz zu entwickeln und Gefahren zu erkennen. Das muss Bestandteil des Lernkonzepts im Unterricht sein. Aber auch die Eltern sind gefragt, durch ihre Haltung. Bin ich selbst ständig durchs Handy abgelenkt? Oder ist es wirklich sinnvoll, wenn man beim Elternabend zur Klassenfahrt eine Diskussion anfängt, ob nicht doch Handys, die eigentlich mal ein paar Tage lang zu Hause bleiben sollten, erlaubt sein sollten. Einige sind zudem einfach froh, wenn ihre Kinder einfach beschäftigt sind und sie ihre Ruhe haben. Zur Person Frank Gauls (57) ist Diplom-Sozialarbeiter und Leiter der Ambulanten Suchthilfe Bethel. Der erfahrene Gesprächspsychotherapeut sieht sich zunehmend mit jungen Leuten konfrontiert, die ein problematisches Mediennutzungsverhalten an den Tag legen. Er ist selbst auch Vater – und kennt so auch aus dieser Perspektive die Sorge rund ums Thema Medienkonsum. Findet in der Gesellschaft ein Umdenken in Bezug auf Social-Media statt? NW-Mitarbeiter Lennart Husemöller hat sich in der Bielefelder Altstadt und in der Universität umgehört: Tabea Druhmann (28) ist Sozialarbeiterin in Elternzeit und verbringt eine halbe Stunde am Tag auf Instagram. “Ich bleibe dabei aber nur auf meiner Startseite, um mir die Beiträge und Stories meiner Freundinnen und Freunde anzuschauen. Auf den Feed gehe ich gar nicht.” Daniel Schröter (27) nutzt an sozialen Medien nur Instagram. “Ungefähr eine Stunde am Tag. Zum Zeitvertreib. Etwas anderes ist das für mich auch nicht”, sagt der gelernte Einzelhandelskaufmann. "So wie die sozialen Medien von vielen genutzt werden, verfehlen sie einfach ihren Zweck", urteilt er. Xenia Potemina (31) arbeitet als Sekretärin. Sie ist bei Instagram, Bereal und Tiktok angemeldet. Instagram verwendet sie für den Kontakt und den Austausch mit Freunden. Tiktok einerseits zur Unterhaltung und andererseits, um sich zu unterschiedlichen Themen zu informieren. "Wenn ich schon soziale Medien nutze, dann will ich sie sinnvoll nutzen. Ein bewusster Umgang ist mir wichtig”, erklärt sie. Deshalb hat sie ihre maximale Nutzungsdauer auf insgesamt 30 Minuten beschränkt. Sie verwendet eine der zahlreichen Apps, die dabei helfen sollen, weniger Zeit mit dem Smartphone zu verbringen. Nick Schmitt (20) verbringt täglich etwa eine Stunde auf Instagram, Tendenz steigend. Da Instagram die Kurzvideos von Tiktok übernommen hat, erklärt der Student, verbringe er jetzt immer mehr Zeit mit der App. "Oft nimmt man nur kurz aus Langeweile das Smartphone in die Hand und plötzlich taucht man zehn, zwanzig, dreißig Minuten in der App ab”, stellt Schmidt fest. “Ich versuche dann schon bewusst, das Handy wegzulegen”, fügt er an. Was Präventionsprogramme den Jüngeren in der Schule näherbringen wollen, scheint zumindest einigen Bielefeldern in der Altersgruppe zwischen 20 und 30 bereits bewusst zu sein: Dass der übermäßige Konsum von Social Media negative Konsequenzen haben kann und sich zum Beispiel auf die Leistungsfähigkeit auswirken kann.

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