"Das ist Ausbeutung": Psychisch Kranker aus Bielefeld kämpft um Mindestlohn

Bielefeld. Thomas Senffleben war lange Jahre mit seinem Leben zufrieden. Er arbeitete bei einer Bielefelder Großhandelsfirma, hatte eine schöne Wohnung in der Fröbelstraße. Dann aber wurde er krank und rutschte in eine ihm bislang unbekannte Welt: die der Menschen mit Beeinträchtigungen. Doch die blieb ihm bis heute fremd. "Mit ganz normalen Menschen Kontakt haben, das war immer mein Ziel", sagt er. Dazu einen ganz normalen Job und dafür wenigstens den Mindestlohn. Aber auch wenn vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind: Beim Mindestlohn gilt das nicht. Jobverlust wegen psychischer Probleme Thomas Senffleben zog 2002 von Lage nach Bielefeld, wo er als Lagerleiter in Vollzeit arbeitete. 2005 bekam der gelernte Speditionskaufmann psychische Probleme, wurde in mehreren Kliniken behandelt, verlor seinen Job und musste in eine preiswertere Wohnung ziehen. Der heute 50-Jährige rutschte ins Unterstützungssystem für Menschen mit Behinderungen, doch damit konnte er von Anfang an wenig anfangen. Ob Hilfe beim Putzen oder beim Kochen: "Das war alles gut gemeint. Aber das konnte ich auch selbst." In der Behindertenwerkstatt kam er ebenfalls nicht zurecht, "das ist völlig verrückt, wenn man von einem normalen Arbeitsleben ausgeht". Mit dem Sortieren von Schrauben und Muttern fühlte er sich unterfordert, die Tätigkeit in der Keramikwerkstatt lag ihm nicht. Und: "Ich bekam einen Betreuer und war nur noch unter behinderten Menschen. Alles war dort. Geistig Behinderte, psychisch Behinderte, körperlich Behinderte." Fehlende soziale Anerkennung Durch die Vermittlung eines Sozialarbeiters fing Senffleben dann in einer Buchbinderei von Pro Werk an. Dort gefiel es ihm besser. Er habe zu den besten Mitarbeitern gehört, sagt er. Aber sozial anerkannt fühlte er sich nicht. "Ich wurde nie als Mitarbeiter gesehen. Ich wurde ,Beschäftigter' genannt." Er kündigte und suchte sich selbst einen 450-Euro-Job. Zusammen mit seiner Erwerbsminderungsrente in Höhe von 800 Euro kam er zurecht. Aber noch in der Probezeit bekam er die Kündigung. "In Deutschland geht alles so unheimlich schnell bei der Arbeit", versucht er sich in einer Erklärung. "Das kann ich einfach nicht." So kehrte er in eine Behindertenwerkstatt zurück, wo er halbtags "für ganze 249 Euro" arbeite: "Ich finde, das ist Ausbeutung." Deshalb kündigte er erneut. 220 Euro Entgelt pro Monat 2019 bekamen laut Bundesarbeitsministerium (BMAS) knapp 280.000 Beschäftigte in den Werkstätten pro Monat im Durchschnitt 220 Euro Entgelt. Diejenigen mit Erwerbsminderung erhielten zudem im Durchschnitt eine Rente von 826 Euro. Im Betheler Stiftungsbereich "Arbeit und berufliche Rehabilitation pro Werk", Teil der von Bodelschwinghschen Stiftungen, arbeiteten 2.400 Beschäftigten, dazu kommen 300 ausgelagerte ("betriebsintegrierte") Arbeitsplätze in Unternehmen, berichtet Michaela Diesen, Geschäftsführung von Pro Werk. Einen Mindestlohn gebe es für beides nicht. Bislang sei der Wunsch danach auch noch nicht an die Geschäftsführung herangetragen worden. Arbeitnehmerähnlicher Rechtsstatus Das sei auch nicht verwunderlich, meint Diesen. Sowohl Werkstatt-Arbeitsplätze als auch die ausgelagerten hätten einen arbeitnehmerähnlichen Rechtsstatus. Der biete viele Vorteile. Laut Kathrin Völker, Geschäftsführerin Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen, sind die Beschäftigten mit Behinderungen dort nicht zu einer festen Arbeitsleistung verpflichtet, sie können (auch während der Arbeitszeit) etwa pflegerische Unterstützung, Ergotherapie oder andere Angebote in Anspruch nehmen. Diesen verweist zudem auf eine laufende Studie des BMAS dazu, wo das Entgeltsystem verbessert werden könnte, ob die Vergütung angemessen und verständlich sei. Der Abschlussbericht soll Ende 2023 vorliegen. Im Zwischenbericht wird darauf verwiesen, dass ein Mindestlohn auch eine geringere Rentenversicherung und geringere Erwerbsminderungs- und Altersrenten bedeute. Forderung nach Mindestlohn Thomas Senffleben findet das ganze System mangelhaft. "Es ist da eigentlich egal, ob man arbeitet oder nicht." Er möchte genug zum Leben verdienen, sich seine Hobbys - Vespafahren und Arminia Bielefeld - leisten und vielleicht mal im Café einen Kaffee trinken können. Deshalb plädiert er für den Mindestlohn in den Werkstätten und weiß, dass er damit nicht allein steht. Aktuell sucht er noch einmal nach einem Minijob auf dem ersten Arbeitsmarkt. "Ich will mich nicht unterkriegen lassen", bekräftigt er. Aber er ist auch froh, dass seine Eltern ihn unterstützen. "Ich bin ja nicht allein". Doch die Zukunft macht ihm Sorgen. "Meine Eltern werden nicht jünger - und ich auch nicht. Die Zeit bleibt nicht stehen."

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