"Es ist schlimm geworden": Bielefelder Zugbegleiterin gibt erschreckende Einblicke

Bielefeld. Irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen. Zu oft ist Simone Schäfer inzwischen beleidigt, bedroht und attackiert worden. &bdquo;Das sind Hunderte Vorfälle“, sagt die Zugbegleiterin aus Bielefeld. Wildfremde Menschen rasten bei einer normalen Fahrkartenkontrolle aus, pöbeln herum, weil sie ihre Füße nicht vom Sitz nehmen oder einen reservierten Platz räumen wollen. &bdquo;Richtig schlimm ist es seit der Maskenpflicht und mit dem 9-Euro-Ticket geworden“, sagt Schäfer. &bdquo;Viele Kollegen sind bereits an ihre Grenzen gestoßen.“ Wie Simone Schäfer geht es zahlreichen anderen Mitarbeitern bei der Bahn. Aber auch Rettungssanitäter, Polizisten, Lehrer, Feuerwehrleute oder Beamte sehen sich immer mehr und immer unverhohlener bei der Ausübung ihres Jobs mit Gewalt konfrontiert. Genau diese Bediensteten des öffentlichen Dienstes und des privaten Dienstleistungssektors stehen im Mittelpunkt einer Kampagne, mit der der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) jetzt auch in Bielefeld diesem beängstigenden Trend entgegenwirken will. Fehlender Respekt, blanke Wut und eine zunehmende Verrohung: Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten hatten bei einer Umfrage des DGB davon berichtet, selbst schon einmal Ziel von verbaler oder körperlicher Gewalt geworden zu sein. Und diese Zahlen stammen noch aus der Zeit vor der Corona-Pandemie, durch die die Nerven bei vielen ohnehin schon gereizten Zeitgenossen endgültig blank lagen. Die Folge ist eine spürbare Zunahme von Respektlosigkeiten und tätlichen Übergriffen. &bdquo;Die Grenzen des Erträglichen sind längst überschritten“, sagt Anke Unger, Regionsgeschäftsführerin des DGB OWL. Denn den Opfern der Attacken werde nicht nur physischer und psychischer Schaden zugefügt, &bdquo;ihnen wird das Menschsein abgesprochen.“ Genau wegen dieser Auswüchse steht das Menschsein im Zentrum der jetzt im Bielefelder Rathaus vorgestellten Kampagne. &bdquo;Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch“ lautet der Slogan auf einer Reihe von Plakaten, auf denen acht unmittelbar Betroffene aus Bielefeld und Umgebung sich zu Wort melden und dabei potenziellen Gewalttätern direkt in die Augen schauen. Das Institut für Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld sieht eine besorgniserregende Entwicklung Neben Simone Schäfer ist unter anderem auch Kai-Uwe Siepert vom städtischen Umweltbetrieb, auf einem der Plakate zu sehen. &bdquo;Ich halte Dein Viertel sauber. Und Du zeigst mir den Mittelfinger?“ ist neben seinem Porträt zu lesen. Dabei gehört der Mittelfinger noch zu den harmloseren Dingen, mit denen er und seine Kollegen im Alltag konfrontiert werden. Meist würde er in solchen Situationen einfach wegsehen und weitermachen. Dadurch, dass er bei der DGB-Kampagne nun sein Gesicht zeigt, will er hingegen klare Kante zeigen: &bdquo;Ich will, dass die Menschen mehr Respekt zeigen.“ Dass dieser keineswegs selbstverständlich ist und dass es eine besorgniserregende Entwicklung gibt, bestätigte bei der Vorstellung der Kampagne Wilhelm Heitmeyer vom Institut für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Der Experte schilderte, dass die Zahl der Arbeitsunfälle, die durch Gewalt verursacht worden sind, laut der Gesetzlichen Unfallversicherung seit 2010 um 50 Prozent gestiegen seien. &bdquo;Und da sind die Fälle von psychischer Gewalt noch nicht einmal mit eingerechnet“, sagt Heitmeyer. Diese deutliche Steigerung sei dabei nicht vom Himmel gefallen und sei auch nicht allein durch persönliche Defizite der Täter zu erklären. Vielmehr macht der Soziologe die Entwicklung unter anderem an einer deutlichen Individualisierung der Gesellschaft fest. Diese sorge zwar für mehr Freiheiten, gleichzeitig würden sich aber einige Menschen beim Ausleben dieser Freiheiten immer mehr und immer rücksichtsloser über gesellschaftliche Normen hinwegsetzen. Experte von der Universität Bielefeld zur Rolle von Krisen und Kontrollverlusten Hinzu komme eine &bdquo;Ökonomisierung des Sozialen“: Mitmenschen würden immer häufiger nach ihrer Nützlichkeit und ihrer Effizienz und nicht nach ihrem Menschsein bewertet. Wenn dann jemand als Störung oder als Hindernis wahrgenommen wird, sei die Gewalt für immer mehr Zeitgenossen ein legitimes Mittel, um doch noch zum persönlichen Ziel zu gelangen. Heitmeyer versprühte bei seinen Ausführungen nicht viel Optimismus. Im Gegenteil: Die Politik sei mit ihren Mitteln nur begrenzt in der Lage, der zunehmenden Verrohung unmittelbar entgegenzuwirken. Zusätzlich würden Krisen wie etwa die Finanzkrise von 2009 oder jetzt die Corona-Pandemie dazu führen, dass das politische Gefüge an sich in Schieflage gerät. Die damit einhergehenden Kontrollverluste würden vielen Menschen noch mehr das Gefühl von Unsicherheit und Ohnmacht geben – was wiederum zu mehr Attacken führen könnte. &bdquo;Ich hoffe, dass ich mit dieser Annahme falsch liege“, schloss Heitmeyer, der in der Kampagne des Gewerkschaftsbundes dennoch ein wichtiges Zeichen sieht. &bdquo;Eine Gesellschaft muss sich immer wieder der eigenen Normen vergewissern“, so der Soziologe. &bdquo;Daher ist das eine wichtige Aktion.“

Meistgelesen