Jetzt als Podcast: Die Vergewaltigungsserie im Klinikum Bethel

Bielefeld. Es handelt sich wahrscheinlich um die größte Vergewaltigungsserie innerhalb eines Krankenhauses in Deutschland. Ein Bielefelder Assistenzarzt hat zwischen Februar 2019 und April 2020 zahlreiche seiner Patientinnen nachts aufgesucht, mit einem Narkosemittel bewusstlos gemacht und sie dann - unbemerkt von Pflegerinnen und Kollegen - missbraucht und vergewaltigt. Philipp G. hat die Taten mit seiner Handy-Kamera gefilmt. Das Entsetzen über diese Straftaten ist in Bielefeld riesig - aber auch die Fassungslosigkeit darüber, dass der Täter so lange unentdeckt geblieben ist. Kritiker werfen den Ermittlern, aber auch den Verantwortlichen der Klinik folgenreiche Versäumnisse vor. Darüber redet "Ostwestfälle"-Moderator Sebastian Beeg im neuen Podcast mit Lokalredakteur Jens Reichenbach. Die Vergewaltigungsserie im Klinikum Bethel im Überblick: Der Assistenzarzt Philipp G. vergewaltigt von Februar 2019 bis April 2020 insgesamt 32 Patientinnen im Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld. Nachdem die Kriminalpolizei in der Wohnung des Arztes Videodateien der Taten gefunden hat, wird Philipp G. am 21. September 2020 festgenommen. Nur zwei Tage nach seiner Verhaftung nimmt sich der Beschuldigte in der Zelle das Leben. Eine Liste mit 80 Frauennamen, die in der Wohnung des Täters gefunden wurde, lässt vermuten, dass es weitere Opfer aus dem privaten Umfeld gibt. Bis heute gibt es keine eindeutige Opferzahl. Und bis heute weiß nicht jedes Opfer, dass es von Philipp G. vergewaltigt wurde. Für die betroffenen Frauen war ihre unerwartete Bewusstlosigkeit im Klinikbett der Beginn einer langen Leidenszeit - für die einen aufgrund einer unerklärlichen körperlichen oder seelischen Reaktion direkt nach der Tat, für andere begann das Trauma erst, als sie Monate später davon erfuhren, von Philipp G. (32) unter Narkose vergewaltigt worden zu sein. Eine der betroffenen Frauen hat sich in diesem Fall besonders hervorgetan: Carina K. (Name geändert) fällt durch ihre besondere Stärke und Durchsetzungskraft auf, ohne die möglicherweise der ganze Fall nie ans Licht gekommen wäre. Eine Frau bringt die Vergewaltigungsserie ans Licht Sie hatte sofort nach der Tat bemerkt, dass ihr Unrecht widerfahren war. Auch wenn sie angesichts ihrer Narkose noch nicht annähernd erfassen konnte, was der Täter ihr tatsächlich angetan hatte. Trotzdem war sie es, die den Stein ins Rollen brachte und der Sache nachgegangen ist. Ohne die Stärke und die Kampfkraft von Carina K. wäre Philipp G. noch länger oder sogar ganz unentdeckt geblieben. Und dann der Schock: Der Täter entzieht sich mit seinem Suizid jeder Verantwortung. Die Suche nach Mitschuldigen, die zu lange zugesehen haben könnten, wurde eingestellt und die Opfer, die von nichts wussten, wurden im Unklaren gelassen. Carina K. stürzt in ein weiteres Trauma. Schließlich greift im November 2021 der damalige Justizminister Peter Biesenbach (CDU) ein. Ein äußerst seltener Vorgang. Das Justizministerium beauftragt die Kripo Bielefeld und die Staatsanwaltschaft Duisburg erneut, die Ermittlungen aufzunehmen und damit auch die Suche nach den Vergewaltigungsopfern fortzuführen. Bis dahin hatten gerade Mal sieben Betroffene erfahren, dass sie von ihrem Arzt zunächst sediert und dann vergewaltigt worden sind. Und nur sie erfahren, dass es Videodateien dieser Taten gibt. Bielefelder Lügen, Versäumnisse und Ermittlungsfehler Diese Entscheidung wurde 2022 korrigiert. Inzwischen sind alle identifizierten Opfer aus dem Klinikum Bethel über die Sexualstraftaten informiert und gehört worden. Doch es gibt noch mehr Opfer. Eine Liste mit 80 Frauennamen war lange Zeit Bestandteil einiger Spekulationen. Bis die Staatsanwaltschaft Duisburg nun mit den Gerüchten aufräumte. Bis heute beschäftigen sich die Behörden mit diesen Fragen: Warum glaubten so viele Kollegen den Lügen des jungen Neurologen? Warum wurden die Patientenbeschwerden nicht ernster genommen? Warum überprüfte die Kripo Monate lang nicht die Personalie Philipp G.? Denn bereits 2016 wurde wegen ähnlicher Vorwürfe gegen ihn ermittelt. Und warum ließ die Staatsanwaltschaft Bielefeld ein Großteil der Opfer über die Tat im Ungewissen? Im Podcast zu diesem Fall ordnet Sebastian Beeg im Gespräch mit Jens Reichenbach die aktuelle Beweislage ein. Ereignisse der Vergewaltigungsserie im Klinikum Bethel 2016: Erste Ermittlungen Die Staatsanwaltschaft Krefeld ermittelt gegen den Medizinstudenten Philipp G. wegen der sexuellen Nätigung einer schwangeren, durch Narkosemittel betäubten Klinikpatientin in Kempen (Kreis Viersen). Diese Ermittlungen werden eingestellt. Erst im Oktober 2022 gehen die Ermittler davon aus, dass auch diese Frau Opfer von Philipp G. wurde. Februar 2018: Der Beginn im EvKB Nach einem einjährigen Australien-Aufenthalt (Sabbat-Jahr) nimmt Philipp G. eine Assistenzarzt-Stelle im EvKB an. In Personalakte und Führungszeugnis finden sich keine Hinweise auf die Ermittlungen. Februar 2019: Die erste Beschwerde Spätestens in diesem Monat beginnt die Vergewaltigungsserie. Der Vater einer Patientin beschwert sich über nächtliche Behandlungen, seine Tochter hat einen Filmriss. Die Klinik versichert, das alles seine Richtigkeit habe. Viel später erfährt auch sie, dass sie vergewaltigt wurde. Juli 2019: Beweismittel verschwindet Patientin Carina K. (36) beschwert sich über G., weil er ihr mitten in der Nacht ein Mittel über einen Zugang verabreicht. Sie wird sofort ohnmächtig. Morgens findet sie in ihrem Bett ein Fläschchen des Narkosemittels Propofol. Beweisstück und Beschwerde verschwinden irgendwo innerhalb der Station. Dem Vorwurf wird nicht weiter nachgegangen. August 2019: Fehlender Eintrag in der Akte Eine andere Patientin spricht den Chefarzt an und fragt nach dem wohltuenden Schmerzmittel, dass G. ihr nachts gegeben habe. In der Akte findet sich kein Eintrag, der Chefarzt soll sie daraufhin abgewimmelt haben. Zwei Tage später soll in die Akte das Schmerzmittel Paracetamol nachgetragen worden sein. Auch diese Beschwerde wird nicht hinterfragt. 3. September 2019: Der Beginn der Ermittlungen in Bielefeld Patientin Carina K. kehrt auf die Station zurück. Wieder gibt ihr G. eine Flüssigkeit. Auch ihre Bettnachbarin wird von ihm in dieser Nacht narkostisiert. Am nächsten Tag nimmt man die Beschwerden der Frauen ernst. Doch ihre Blutuntersuchungen bleiben unauffällig. Die Verantwortlichen sprechen von einem Kollaps, weil die verabreichte Kochsalzlösung nicht richtig temperiert war. Die 36-Jährige entlässt sich selbst, nachdem sie sich mehrfach im Krankenhaus beschwert hatte. Sie geht zur Polizei und erstattet Anzeige wegen Körperverletzung. Es ist der Beginn der Ermittlungen - zunächst wegen missbräuchlicher Medikamentenabgabe. Von einer Sexualstraftat spricht zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Erst ein halbe Jahr später gibt es einen ersten Hinweis, warum Philipp G. seine Patientin wirklich in Vollnarkose versetzt hat. Dezember 2019: Auch Pflegekräfte beschweren sich Nach Recherchen des ARD-Magazins Kontraste weisen nun auch Pflegekräfte der Station auf das zweifelhafte Verhalten des jungen Arztes hin. 21. Januar 2020: EvKB zieht erste Konsequenzen Nach einer fünften Patienten-Beschwerde, die den Chefarzt erreicht, untersagt er dem 32-Jährigen den Einsatz von Narkosemitteln. Damals war der Klinik bekannt, dass G. Propofol zur Sedierung von Patienten etwa vor CT-Untersuchungen einsetzte. &bdquo;Eine Vorgehensweise, die nicht den klinikinternen Standards entsprach", heißt es später in einer Mitteilung im Rechtsausschuss des Landtags. Außerdem darf G. nicht mehr ohne Begleitung von Pflegekräften zu den Patientinnen. März 2020: Die Kripo endeckt erste Ermittlung gegen Philipp G. Der Sachbearbeiter der Kripo soll nach der Anzeige im September erst jetzt den Namen des Beschuldigten ins Polizeisystem eingegeben haben. Hier taucht nun das Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer sexuellen Nötigung unter Narkose von 2016 auf. Nach Aussage der Staatsanwaltschaft war der Kripo-Beamte zuvor mit Mordermittlungen betraut. Opferanwälte sprechen von einem Versagen der Ermittlungsbehörden. April 2020: Niemand kann ihn stoppen Philipp G. ignoriert die Anweisungen des Chefarztes vom Januar völlig. Bis April 2020 macht er weiter mit den Straftaten. Die Kripo identifiziert im April 2020 das letzte Opfer der Vergewaltigungsserie. April 2020: Bielefelder Polizei durchsucht die WG des Assistenzarztes Nun kommt Bewegung in die Ermittlungen. Die Kripo durchsucht die Klinik und die Wohnung von Philipp G. In seinem WG-Zimmer finden sich zahlreiche Betäubungs- und Narkosemittel. Außerdem stellt die Kripo mehrere kompliziert verschlüsselte Dateien sicher. Die Klinik stellt ihren Assistenzarzt vom Dienst frei. Wenig später kündigt er selbst. 21. September 2020: Festnahme des Vergewaltigers Kripo-Experten entschlüsseln endlich die Dateien des Arztes und finden darunter zahlreiche selbstgefilmte Videos. Sie zeigen die Vergewaltigung mehrerer betäubter Frauen in ihrem Patientenzimmer. Außerdem wird eine Liste mit 80 Namen sichergestellt. Die Entschlüsselung Daten zeigt erstmals das ganze Ausmaß der Taten. Noch am selben Tag wird Philipp G. festgenommen und in eine Zelle geführt. Am 22. September wird dem Beschuldigten der Haftbefehl verkündet. Anschließend informieren Polizei und Staatsanwaltschaft Bielefeld die Öffentlichkeit über den Fall. 24. September 2020: Suizid in der Untersuchungshaft Der Beschuldigte nimmt sich in seiner Zelle das Leben. Er erstickt sich in der Untersuchungshaft. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn muss daraufhin eingestellt werden. Frauen, die befürchten, Opfer der Vergewaltigungen geworden zu sein, dürfen sich weiterhin bei den Ermittlungsbehörden melden. Alle anderen identifizierten Opfer werden nicht von den Ermittlern informiert, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Die Entscheidung löst große Entrüstung aus. Oktober 2020: Ermittlungen gegen weitere Ärzte Zwei der Opfer - darunter auch Carina K. - zeigen die Vorgesetzten des Assistenzarztes wegen "Beihilfe zur Vergewaltigung durch Unterlassen" an. Die Staatsanwaltschaft bejaht einen Anfangsverdacht gegen drei Vorgesetzte des 32-Jährigen und leitet erste Ermittlungen ein. November 2020: Mögliche Übertragung von Geschlechtskrankheiten Der Obduktionsbericht des Beschuldigten liegt nun vor. Die Ermittlungsbehörden erfahren spätestens jetzt, dass Philipp G. ansteckende Geschlechtskrankheiten hatte. Das konnte durch die Obduktion festgestellt werden. Diese können schwerwiegende Folgen für die Opfer haben (Schwangerschaftsgefährdung, Entzündungen in Nieren, Becken und Harnwegen), sofern sie sich infiziert haben. Frühjahr 2021: Opfer sollen informiert werden Die Opferanwälte fordern wiederholt, nun endlich alle identifizierten Opfer über die Taten zu informieren. Allein wegen der Infektionsgefahr, aber auch zur Aufklärung möglicher vorhergehender Versäumnisse. Mai 2021: Zweites Verfahren wird eingestellt Nach ausführlichen Ermittlungen wird das Verfahren gegen die Klinik-Leitung, den Chefarzt und einen Oberarzt von der Staatsanwaltschaft Bielefeld eingestellt. August 2021: Beschwerde wird abgewiesen Die Einstellungsentscheidung aus Bielefeld wird von der Generalstaatsanwaltschaft Hamm bestätigt. Zwei der Opfer hatten zivor gegen die Bielefelder Einstellung Beschwerde eingelegt. November 2021: Justizminister Biesenbach greift in Fall ein Das Justizministerium NRW um den damaligen Justizminister Peter Biesenbach (CDU) schätzt die Entscheidungen aus Bielefeld und Hamm als falsch ein. Das Justizministerium beauftragt eine Ermittlungsgruppe mit vier Staatsanwälten der Behörde in Duisburg mit der Wiederaufnahme des Verfahrens. Auch die NRW-Opferschutzbeauftragte soll nun eng in die Entscheidungen eingebunden werden. Dabei geht es nicht um Ermittlungen gegen Philipp G. - der ist ja tot -, sondern es wird wieder gegen seine Vorgesetzten ermittelt - wegen des Verdachts der Beihilfe. Dezember 2021: Aufklärung aller Opfer Im Dezember und Januar werden die bisher nicht informierten, aber identifizierten Opfer darüber aufgeklärt, dass sie unter Narkose missbraucht oder vergewaltigt und dabei auch gefilmt wurden. Bis dahin waren erst 7 der 32 Opfer über die Taten von Philipp G. informiert worden. Februar 2022: Opfer stellen Strafanzeige gegen die Staatsanwaltschaft Einige der Vergewaltigungsopfer stellen Strafanzeige gegen die Staatsanwaltschaft Bielefeld wegen fahrlässiger Körperverletzung. Sie seien nicht oder viel zu spät über die Geschlechtskrankheiten des Täters und über ihren Status als Opfer der Vergewaltigungsserie informiert worden. Drei Opfer haben sich vermutlich bei Philipp G. angesteckt. Die späte Behandlung der Infektionen könnte schwerwiegende Folgen haben. 1. März 2022: Erneute Durchsuchung im EvKB Kripo und Staatsanwaltschaft durchsuchen erneut die Büros des EvKB, um Personalakten und Patientinnen-Unterlagen sicherzustellen. Es geht wohl auch um fehlende oder möglicherweise nachträglich veränderte Eintragungen in den Akten. Mai 2022: Zahlungen an die Opfer Die Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel kündigen an, dass man das Leid der Patientinnen anerkenne. Über einen eigens eingerichteten Fonds sollen alle Opfer jeweils 20.000 Euro erhalten. EIn Schuldeingeständnis bedeutet die Zahlung nicht. Oktober 2022: Opfer verklagt Bethel auf Schadenersatz Carina K. verklagt mit ihrer Anwältin Stefanie Höke das Evangelische Klinikum Bethel auf 50.000 Euro Schadenersatz. Sie wirft den Verantwortlichen vor, die Patientinnen nicht ausreichend vor dem Assistenzarzt Philipp G. geschützt zu haben. Oktober 2022: Beweise für weitere Opfer aus privatem Umfeld Die Staatsanwaltschaft Duisburg berichtet, dass inzwischen fast alle der 32 identifizierten Patientinnen informiert wurden. Ein Opfer werde in Kürze kontaktiert. Wer das letzte Vergewaltigungsopfer ist, sei wohl nicht mehr herauszubekommen. Die Liste mit 80 Frauennamen gibt Aufschluss darüber, dass Philipp G. möglicherweise auch zehn Frauen aus seinem privaten Umfeld narkostiert und vergewaltigt haben könnte. Die Ermittler entscheiden, dass sie auch alle anderen Frauen über die Infektionsgefahr informieren werden, auch wenn sie mit dem Assistenzarzt einvernehmlich intim waren. Denn trotz des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs wussten sie möglicherweise nichts von seinen Geschlechtskrankheiten. Die Ermittlungen der Duisburger Ermittlungsgruppe dauern weiterhin an. Zum Thema: Alle Berichte zur Vergewaltigungsserie im EvKB

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