Ehefrau von Alice Schwarzer liest in Bielefeld zu einem Tabuthema

Bielefeld. Als die Mauer 1989 fiel, widmete sich die studierte Filmemacherin Bettina Flitner fortan vollends der Fotografie, mal dokumentarisch, mal künstlerisch inszeniert. Als sich ihre Schwester 2017 das Leben nahm wie 33 Jahre zuvor ihre Mutter, begann die Fotografin ihre Geschichte als Autofiktion zu Beginn der Covid-Pandemie 2020 aufzuschreiben. &bdquo;Es war eine Notwendigkeit“, betont die 61-Jährige im Rückblick. Die in Köln an der Seite von Alice Schwarzer lebende Autorin, erinnerte sich mit Hilfe von Fotos und Briefen, verließ sich ganz auf die eigene Wahrnehmung. Acht Monate schrieb sie und gab das Manuskript mit dem Titel &bdquo;Meine Schwester“ dem über 90-jährigen Vater zum Lesen in die Hand. Der war zufrieden. Viele kamen in die Stadtbibliothek, denn selten gibt es eine Gelegenheit, über ein Tabuthema wie den Suizid sprechen zu können. Zwei Erzählstränge verbinden die Lebensgeschichte. In die Gegenwart bricht der Telefonruf mit der schockierenden Wahrheit ein. Im Rückblick leben markante Erlebnisse aus Kindertagen auf. Über allem steht die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Gab es Anzeichen? &bdquo;Sie hatte diese Stärke und hat sie nicht gefühlt“, sagt Bettina Flitner. Susanne, so beschreibt sie die Schwester, war ein fröhliches, übersprudelndes Mädchen,temperamentvoll, witzig und schauspielerisch talentiert. &bdquo;Ich war die Originelle und sie die Lustige“, erinnert sich die Autorin. Dennoch gibt es auch eine dunkle Seite, die sie als junge Frau plagte, Essstörungen, Hygienezwänge, Depressionen. &bdquo;Ich bin auf der Suche geblieben und habe hier und da einen Rockzipfel zu fassen bekommen.“ Eine eindeutige Antwort konnte Bettina Flitner nicht finden. Ernie und Bert aus der Sesamstraße versus Hannah Arendt Flitner ist die Enkeltochter eines bekannten Hamburger Reformpädagogen. Zahlreich sind die Umzüge der Familie aufgrund der beruflichen Karriere des Vaters. In New York lebt die Familie im 16. Stock. Humorvoll beschreibt Flitner aus kindlicher Perspektive, wie die Töchter den Besuch der Sesamstraße mit Ernie und Bert mehr zu schätzen wissen als ein Treffen mit der berühmten Philosophin Hannah Arendt. Wie sehr das Bild vom eigenen Körper verzerrt ist, schildert sie auch in einer lustig-nachdenklich stimmenden Szene über Kosmetik, die niemals für etwas steht, sondern immer gegen etwas gerichtet ist, gegen Falten, gegen das Alter. Die festen Lebens- und Berufsvorstellungen der Eltern machen den Töchtern das Leben schwer. Die elterliche sexuelle Freizügigkeit überfordert sie. Gemeinsam gehen sie zurück nach Deutschland. Es ist ein Abend mit schwerer Thematik, aber gelacht werden darf trotzdem, denn der Autorin gelingt in ihrer Autofiktion eine wohltuende Balance, die viele Seiten des Familienlebens beleuchtet. Für eine entspannende Pause nach der Lesung spielt der Bielefelder Musiker Nils Rabente eigene Kompositionen am Klavier. Natürlich sind Publikumsfragen erlaubt und eine wichtige stellt die Paderbornerin Cornelia Filter, frühere EMMA-Redakteurin, mit der Bettina Flitner gemeinsame Fotoreportagen verbindet. Es ist die Frage nach der Qualität der Erinnerung, die durchaus realitätsnah, aber auch verzerrt oder beschönigt sein kann. &bdquo;Am Anfang war es für mich das Foto mit zwei jungen Frauen“, erinnert sich Bibliotheksmitarbeiterin Angelika Teller an ihre Wahl für das Programm der Literaturtage. Authentisch ist das Spiegel-Foto, das Bettina Flitner mit einer Kamera in der Hand hinter ihrer älteren Schwester zeigt. Im Gespräch offenbart die Autorin, wie sehr das Schreiben über ihre Schwester ihr eigenes Leben verändert hat, es wieder leichter gemacht habe. &bdquo;Mit dem Schreiben kam auch das Leben zurück.“

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