80 Opfer-Namen: Bielefelder Vergewaltigungsserie könnte bis 2013 zurückreichen

Bielefeld. Die Vergewaltigungsserie des jungen Assistenzarztes Philipp G., die vor allem durch seine Taten im Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB) für Entsetzen gesorgt hatte, hat offenbar eine dokumentierte, jahrelange Vorgeschichte. Wie das TV-Magazin &bdquo;Kontraste“ und der &bdquo;Kölner Stadtanzeiger“ parallel berichten, reicht die Liste mit Opfernamen, die der Täter geführt haben soll, bis 2013 zurück. Beide berufen sich dabei auf vorliegende Vermerke der Bielefelder Kripo. Demnach könnte G. also schon ganz am Anfang seiner beruflichen Laufbahn zahlreiche Frauen sexuell genötigt und vergewaltigt haben. Damals lebte er noch nicht in Bielefeld. Die Auswertung dieser zurückliegenden Fälle ist noch nicht abgeschlossen. Bisher hatten die Ermittler lediglich für den Zeitraum von Februar 2019 bis April 2020 insgesamt 28 Opfer aus dem EvKB identifiziert. Weitere 6 Opfer seien aus dem privaten Umfeld von Philipp G. ermittelt worden. Zu möglichen weiteren Opfern sagt die Staatsanwaltschaft Duisburg, die im November 2021 Ermittlungen gegen die Vorgesetzten G.s neu aufgenommen hatte: &bdquo;Die Prüfung, ob es auch außerhalb des Klinikums zu Straftaten des Verstorbenen gekommen ist, dauert noch an. Damit ist derzeit noch unklar, ob und gegebenenfalls wie viele weitere möglicherweise Geschädigte/Opfer es gibt.“ Wissen immer noch viele Opfer nichts von den Vergewaltigungen? Das könnte bedeuten, dass viele von Philipp G.s Opfer bis heute nicht wissen dürften, dass er sie in Narkose versetzt und dann in diesem Zustand vergewaltigt hat. Dabei lag der Kripo-Ermittlungskommission &bdquo;Medicus“ bereits im April 2020 eine Liste mit 80 Frauennamen vor. Die hatten die Ermittler bei der damaligen Hausdurchsuchung in der WG des jungen Assistenzarztes sichergestellt. Beweise für seine Taten lagen allerdings erst mit der Entschlüsselung von G.s Festplatte fünf Monate später vor. Philipp G. hatte seine Videos der Taten fein säuberlich in Ordnern mit den Klarnamen seiner Opfer archiviert. Beweis-Videos von 2014, die Liste beginnt 2013 Wie berichtet, hatte G. seine Patientinnen mit dem Narkosemittel Propofol bewusstlos gemacht und dann die hilflosen Frauen missbraucht und vergewaltigt. Laut &bdquo;Kölner Stadtanzeiger“ sollen die zahlreichen Video-Dateien Rückschlüsse auf 40 Opfer ermöglichen. 28 dieser Opfer waren demnach die EvKB-Patientinnen. Eine Betroffene berichtet im &bdquo;Kölner Stadtanzeiger“, dass der Kripo allein in ihrem Fall mehr als 50 Filme vorliegen: &bdquo;Manche ein paar Sekunden lang, andere eineinhalb Minuten, manche in Zeitlupe“, berichtet die alleinerziehende Mutter. Die Frau aus der Eifel war im Dezember 2019 von ihrer Mutter, die im EvKB arbeitet, nach Bethel vermittelt worden. Doch was ist mit all den anderen möglichen Opfern von der Liste? Philipp G. nahm seine Arbeit in Bethel nach einem Sabbatjahr in Australien erst im Februar 2018 auf. Zuvor war er im Kreis Viersen tätig. Wie war er als junger Student an Narkosemittel und Opfer gekommen? Die ersten entschlüsselten Videodateien sollen laut dem Kripo-Vermerk von 2014 stammen. Die Liste mit den 80 Frauennamen soll G. seit 2013 geführt haben. Dass es eine Opferliste ist, lässt sich nach Angaben des &bdquo;Kölner Stadtanzeigers“ den Notizen entnehmen, die neben der Liste stehen. Sie &bdquo;lassen darauf schließen, dass G. all diese Frauen nötigte oder vergewaltigte“, heißt es. Chefarzt in Kempen zeigte Philipp G. schon 2016 an Bereits bekannt ist ein Fall von 2016. Damals war Philipp G. noch als Medizinstudent im &bdquo;Hospital zum Heiligen Geist“ in Kempen (Kreis Viersen) tätig. Eine schwangere Patientin hatte trotz ihrer Narkose Erinnerungen an sexuelle Übergriffe des damals 28-jährigen Medizin-Studenten. Die Darstellung der Patientin war so konkret, dass der Chefarzt der Abteilung &bdquo;unmittelbar die zuständigen Strafverfolgungsbehörden in Kenntnis gesetzt“ hatte, bestätigt Axel Stahl, Sprecher der damals ermittelnden Staatsanwaltschaft Krefeld, auf Anfrage. Tatsächlich fanden sich im Gesicht der Betroffenen auch DNA-Spuren von Philipp G. Die Schwangere soll sich an das erigierte Geschlechtsteil G.s an ihrem Gesicht erinnert haben. Allerdings waren die DNA-Spuren &bdquo;nicht geeignet, den Beschuldigten wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu belasten“, so Stahl. Kurz gesagt: Es war nicht auszuschließen, dass die DNA auch durch &bdquo;legitime Behandlungsmaßnahmen“ – etwa von seinen Händen – übertragen worden sein könnte. Die Ermittlungen gegen G. wurden deshalb im Oktober 2016 eingestellt. Ermittlungen von 2016 werden nicht wieder aufgenommen Wurden denn nach Bekanntwerden der Tatserie aus Bielefeld auch die Ermittlungen in Krefeld wieder aufgenommen? Die Krefelder Staatsanwaltschaft wurde laut Stahl nicht wieder tätig. Zum Einen konnte gegen den Täter nicht mehr ermittelt werden, weil der zwei Tage nach seiner Inhaftierung Suizid begangen hatte. Und Ermittlungen gegen den Chefarzt wegen Unterlassen waren nicht erforderlich, weil er den Vorfall ja selbst zur Anzeige gebracht hatte. &bdquo;Es konnten keine Anhaltspunkte eines strafbaren Verhaltens von sonstigen Personen im hiesigen Verfahren festgestellt werden“, so Stahl. Anders im Bielefelder Fall: Wie berichtet, hatte die Staatsanwaltschaft Duisburg auf Anweisung des Justizministeriums das bereits eingestellte Verfahren gegen die EvKB-Vorgesetzten von G. im November 2021 wieder aufgenommen. Gegen den Chefarzt, einen Oberarzt und die Klinikleitung steht seitdem wieder der Vorwurf der &bdquo;Beihilfe zur Vergewaltigung durch Unterlassen“ im Raum. Ex-Justizminister spricht von einer "rechtswidrigen" Entscheidung der Staatsanwälte Der damalige NRW-Justizminister, Peter Biesenbach, kritisiert im aktuellen &bdquo;Kontraste“-Interview vor allen die Entscheidung der Ermittler, die identifizierten Opfer nicht aktiv über die Taten informiert zu haben. Staatsanwaltschaft Bielefeld und Generalstaatsanwaltschaft Hamm hatten damals argumentiert, dass man &bdquo;ahnungslose“ Opfer, die durch die Narkose nichts mitbekommen hätten, nicht nachträglich traumatisieren wolle. Dass die Opfer trotz der Narkose schon längst traumatisiert sein könnten, hatten später Traumaexpertinnen scharf kritisiert. Biesenbachs Ministerium beauftragte daraufhin die Staatsanwaltschaft Duisburg mit der Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen die EvKB-Vorgesetzten. Heute sagt Biesenbach dazu: &bdquo;Die Betroffenen nicht zu informieren, war von Anfang an falsch. Als sich dann auch noch die Geschlechtskrankheit herausstellte, war es sogar evident rechtswidrig.“ Denn bereits im November 2020 hatte der Staatsanwaltschaft der Obduktionsbericht des Toten vorgelegen. Bei ihm waren drei Geschlechtskrankheiten identifiziert worden, die unter anderem Schwangerschaften gefährden und sogar unfruchtbar machen könnten. Mehrere der Opfer hatten bis dahin über zum Teil gravierende, aber unerklärliche gynäkologische Beschwerden geklagt. Erst nach dem Machtwort des Justizministeriums konnten sie sich mit Hilfe der Informationen aus dem Obduktionsbericht effektiv behandeln lassen. Viel zu spät, sagen Betroffene. Anzeigen gegen die veranwortlichen Ermittler Weil Rechtsanwältin Stefanie Höke bereits im Februar 2022 im Namen ihrer Mandantinnen die Verantwortlichen der Staatsanwaltschaft und einen Ermittler der Kripo angezeigt hatte, prüft seitdem die Staatsanwaltschaft Duisburg, ob gegen die Verantwortlichen ein Anfangsverdacht unter anderem wegen des Tatvorwurfs der Körperverletzung im Amt vorliege. Die später vorgetragenen Rechtfertigungsargumente der Generalstaatsanwältin bezeichnete Biesenbach nun bei &bdquo;Kontraste“ als &bdquo;absurd“. Die Ermittlungen in Duisburg dauern weiterhin an. Zum Thema: Das sagt der EvKB-Chef zur Vergewaltigungsserie

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