Die bewegenden Schicksale hinter Bielefelds Stolpersteinen

Bielefeld. Mit einem dicken Ordner erscheint Christine Biermann bei Eva Hartog, er ist prall gefüllt mit Geschichten über Verfolgung, Leid und Tod. Vor fast 20 Jahren gründeten die beiden Frauen die Stolperstein-Initiative Bielefeld. Die Steine sollen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern und werden meist vor dem letzten freiwilligen Wohnort platziert. Seit 2004 haben sie in Zusammenarbeit mit Künstler Gunter Demnig, Schulklassen, Vereinen und dem Stadtarchiv Bielefeld 200 Stolpersteine verlegt. Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erinnern sie sich an sehr bewegende Schicksale. &bdquo;Mir bleiben besonders die Geschichten im Kopf, bei denen Angehörige der Opfer ausfindig gemacht worden sind“, sagt Hartog. So auch die von Hugo Schweitzer. 2006 verlegte die Initiative Am Wortkamp 35a einen Stolperstein für den Bielefelder Dachdecker. Er war keiner Partei angehörig, aber politisch eher links orientiert, was ihm zum Verhängnis wurde. Im Konzentrationslager Sachsenhausen starb Schweitzer und hinterließ eine Frau und fünf Kinder.Sein Sohn, der nach seinem Vater benannt wurde, war bei der Verlegung des Stolpersteins zu krank, um dabei sein zu können. &bdquo;Es war sein innigster Wunsch, einmal den Stein seines Vaters zu sehen“, erinnert sich Hartog. Später konnte er das Hospiz kurz verlassen und sich am Stein von seinem Vater verabschieden. &bdquo;Ein paar Wochen später starb Hugo Schweitzer. Als wäre endlich Frieden eingekehrt.“ "Ein Stück Identität zurückgegeben" Sehr ergriffen war auch die Tochter von Erich Wemhöner, dem an der Bossestraße 3 ein Stolperstein gewidmet wurde. Auch er wurde aus politischen Gründen verhaftet und im KZ Neuengamme ermordet. Christel Glemser erfuhr über ihre Cousine vom Stolperstein ihres Vaters. &bdquo;Damit wurde meinem Vater ein Stück Identität zurückgegeben“, sagte sie im Jahr 2005. Seit 2010 sollen drei Steine an der Viktoriastraße 48 an jüdische Opfer des Naziregimes erinnern: Klara Juhl, Mathilde Juhl und Hanna Bender. Hanna und ihr Verlobter Fritz Bender flohen 1933 in die Niederlande. Mutter Klara und Schwester Mathilde folgten ihnen nach dem Tod von Vater Hugo Juhl, der eine Wäschefabrik besaß.1940 besetzten die Nationalsozialisten auch die Niederlande, und Fritz Bender wagte die Flucht mit einem Ruderboot nach England. &bdquo;Nach Tagen wurde er von einem englischen U-Boot gerettet. Das muss man sich mal vorstellen“, sagt Biermann. &bdquo;Die Frauen wussten von seiner Rettung aber nichts und haben angenommen, dass er tot ist.“ Zusammen mit Marianne, Hannas kleinen Tochter, töteten sie sich mit Gas. &bdquo;Man kann hier nicht von Leben nehmen sprechen. Es war eher eine Flucht in den Tod“, sagt Hartog. Ein Angehöriger weinte bei der Verlegung Ganz besonders in Erinnerung ist den Gründerinnen der Initiative das Schicksal von Vera Davidsohn und ihren Eltern Benni und Erna. Als eine der ersten Bielefelder Juden wurden sie 1941 nach Riga deportiert, da war Vera drei Jahre alt. Am Bahnhof angekommen, wurde sie ihren Eltern entrissen und vor deren Augen erschossen.Die Eltern wollten nicht mehr leben und baten darum, ebenfalls erschossen zu werden. &bdquo;Bei der Verlegung waren auch Angehörige der Familie Davidsohn anwesend. Harald Davidsohn, der auf einer Etage mit Vera gewohnt und oft mit ihr gespielt hat, musste weinen“, sagt Biermann. Ihre Steine liegen an der Mühlenstraße 42. Bei der Verlegung war die damals elfjährige Hannah anwesend, die von ihrer Tante die Patenschaft des Steins der kleinen Vera geschenkt bekommen hatte. Erna war eine gesunde junge Frau Die Stolpersteine sollen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. So auch an Erna Kronshage, die mit 21 Jahren nach der Diagnose Schizophrenie ermordet wurde. &bdquo;Diese Diagnose musste nicht viel heißen. Die Patienten konnten lediglich von ihrem Verhalten her auffällig sein, zum Beispiel in der Pubertät. Schizophrenie war eine Sammeldiagnose“, sagt Hartog.Ernas Neffe Edward Wieand hält heute noch Vorträge über seine Tante. Nach seinen Angaben war Erna eine gesunde junge Frau, die außerdem sehr intelligent gewesen ist. Nach ihrer Diagnose wurde sie wie viele andere &bdquo;kranke“ Frauen zwangssterilisiert und in einer Anstalt in Polen umgebracht. 200 Schicksale haben Christine Biermann und Eva Hartog recherchiert und begleitet. Und sie sind noch lange nicht am Ende. &bdquo;Unser Terminkalender ist so voll, dass wir weitere Anfragen auf 2023 verschieben müssen“, sagt Biermann. Aber sie werden das Projekt auf jeden Fall fortführen.

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