Bielefelder Intensivpfleger spricht offen von Triage in den Kliniken

Bielefeld. Eine Schreckenszahl jagt die nächste: teils mehr als 50.000 Neuinfektionen täglich, die 7-Tages-Inzidenz bundesweit mit 289,0 auf einem Höchststand in der gesamten Pandemie. In Sachsen und Bayern gibt’s Werte jenseits der 1.000. Auch in Bielefeld sieht es nicht gut aus: 199 Neuinfektionen, wie am Freitag gemeldet, hat es noch nie gegeben, die 200er-Schallgrenze bei der Inzidenz wieder in Reichweite. Das sind Zahlen, die Ralf Berning nicht nur sorgen, sondern auch böse machen. Dem Intensivpfleger im Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB) graut davor, was im zweiten Corona-Winter auf ihn und seine Kollegen zukommt. Und für ihn das Schlimmste: &bdquo;Es interessiert keinen. Weder die Menschen da draußen noch die Politik." Trotz vieler schöner Reden, zahlreichen Talkshows habe sich für die Pflegerinnen und Pfleger wenig geändert, sagt Berning, der selbst aktiv ist, um ein besseres Umfeld für sich und seine Kollegen zu schaffen. Er hat nicht nur einen Brandbrief an die Kanzlerin geschrieben, sondern natürlich auch die Pflege-Petition &bdquo;Pflege braucht Würde" unterschrieben, die an den Bundestag gerichtet war. Auch als Interviewpartner ist er in Pandemiezeiten gefragt. Als &bdquo;Schwester Gabi", so Bernings Spitzname auf der Station, ist er in den sozialen Medien unterwegs. Sein gleichnamiger Instagram-Kanal, auf dem er Pandemie und Gesundheitspolitik kritisch bis sarkastisch begleitet, hat mittlerweile 15.300 Abonnenten. Der Start in die Karnevalssaison und die Bilder aus Köln sind die jüngste Aktion, die den Intensivpfleger fassungslos machen. &bdquo;Tadaaaa. Es lebe der Karneval. Seid ihr wahnsinnig geworden? Endlich bekommen wir einen Booster – für Neuinfektionen", schreibt Berning auf Instagram und vergleicht die Situation bildlich noch mit Mentos-Drops, die man in eine volle Cola-Flasche wirft. Bekanntlich explodiert die braune Brause geradezu, ohne dass das Sprudeln zu stoppen wäre. Der bekannte Virologe Christian Drosten warnt aktuell vor &bdquo;100.000 weiteren Toten", in einem Strategie-Papier haben 21 Virologen, Epidemiologen und Fachleute erklärt, die vierte Welle lasse sich nur durch eine &bdquo;Impf- und Booster-Offensive brechen". Ralf Berning im Gespräch mit der Welt Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Ralf Berning (@_schwester.gabi) Das ist auch für Ralf Berning der einzig wahre Weg, und dennoch ist er sehr pessimistisch. Rund 16 Millionen Deutsche sind noch nicht geimpft. &bdquo;Ich glaube nicht, dass wir von denen noch viele abholen können." Es habe genug Gelegenheiten gegeben, sich impfen zu lassen, &bdquo;es gibt einfach keine Entschuldigung mehr dafür, nicht geimpft zu sein". Jeder habe auch die Verantwortung anderen gegenüber. &bdquo;Schwester Gabi" räumt ein, dass er bei der Arbeit manches Mal alle Kraft brauche, Ungeimpften, die auf der Intensivstation landen, nicht die Meinung zu sagen, wenn beispielsweise so Sprüche kämen wie &bdquo;Ich hatte noch keine Zeit zum Impfen". Noch landen deutlich weniger Menschen auf den Intensivstationen als in der zweiten Welle, als bis zu 5.700 Menschen auf bundesdeutschen Intensivstationen lagen und starben – manchmal bis zu 900 am Tag. Derzeit sind etwa 3.000 Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen. Zehn Intensivbetten weniger Doch wer denkt, dass damit doch alles paletti ist, der irrt. In den Krankenhäusern, auch im EvKB, ist die Lage eine ganz andere als zu Jahresbeginn. &bdquo;Im zweiten Corona-Winter haben wir theoretisch 16 High-Care-Betten und zehn Low-Care-Betten zur Verfügung", sagt Berning. Aber nur zehn, beziehungsweise sechs davon können genutzt werden, alle zumeist belegt. Das hat mehrere Gründe. "Viele Kollegen haben gekündigt, weil sie die Situation nicht mehr ertragen", sagt der 38-Jährige. &bdquo;Die zweite Corona-Welle war die schlimmste, weil so viele Patienten gestorben sind. Es war krass und unwirklich, hatte was von Endzeitszenario." Es sei schrecklich zu erleben, wie handlungsunfähig man bei Covid-Patienten ist, trotz all der Intensivmedizin. &bdquo;Das ganze Leid, die Patienten, die so elend nach Luft schnappen. Nach Ertrinken und Ersticken ist das wohl das Schlimmste", schildert Berning. Auch dass sich zwei ihrer Ärzte angesteckt haben und auf Intensiv lagen, &bdquo;macht was mit einem"; dazu die Angst, sich selbst zu infizieren. &bdquo;Nach zwei Jahren Pandemie sind wir sehr müde und sehr erschöpft." Denn auch wenn sie sich den Beruf ausgesucht, psychologische Hilfe hätten, seien sie doch &bdquo;keine Apparate". Und jetzt drohe sich die Pandemie-Situation zu wiederholen, auch wenn dank der Impfung nicht so viel gestorben wird, wie im ersten Corona-Winter. Offene Gedanken von Intensivpflegekräften des EvKB zu Corona. Gekämpft, gehofft und oft verloren Gerade viele junge Kollegen, sagt Berning, seien in andere Bereiche gewechselt oder ganz raus aus der Pflege. Jeder Sechste habe nach einer Studie der Hochschule für angewandte Wissenschaft in Hamburg keine Motivation mehr für den Job. Nachschub ist bei mindestens dreijähriger Ausbildung von Pflegekräften nicht so schnell in Sicht, Intensivfachkräfte lernen noch zwei Jahre länger. Da würden auch die eingeführten Personaluntergrenzen nicht helfen, wonach jede Pflegekraft rechnerisch tagsüber maximal 2,5 und nachts 3,5 Patienten betreuen darf, so &bdquo;Schwester Gabi". Und dass eine Klinik dann Strafen zahlt, wenn sie trotzdem mehr Patienten aufnehme. Der &bdquo;Pflexit", wie Berning sagt, habe zu den Bettenschließungen geführt. Gerade weil die Intensivstationen für die Kliniken wichtige Einnahmenquellen seien, gefährde der Fachkräftemangel auch die Finanzierung von Kliniken. Ein Grund, den auch Berning kritisiert, ist dass nach Quantität und nicht nach Qualität von Pflege berechnet werde. &bdquo;Alles ist nur auf Gewinnmaximierung ausgelegt, das Geld wird nicht richtig verteilt. Die Patienten sind nur Kunden, das kann lebensgefährend sein." "Wer ist der Beste der Schlechten?" Wenn alle Betten belegt seien, kämen trotzdem neue Patienten – und nicht nur die mit Corona. Oft seien diese nicht transportfähig, um sie kilometerweit in eine andere Klinik mit freien Betten zu bringen. &bdquo;Und dann wird natürlich auch bei uns triagiert", sagt Ralf Berning offen. &bdquo;Wer ist der Beste der Schlechten?" Der müsse dann das High-Care-Bett freimachen." Aber das ist politisch so gewollt, weil alles so viel Geld kostet", kritisiert der Intensivpfleger. Und er wiederholt: &bdquo;Es interessiert keinen." Erst, wenn jemand unmittelbar betroffen sei, wenn die Pflegekräfte bei Bedarf nicht schnell genug am Bett sein könnten, weil das Personal fehle, &bdquo;dann interessiert es, und dann kriegen wir den Ärger ab". Und trotz allem, sagt Ralf Berning, habe er, der zuvor Zeitsoldat war und auch in Afghanistan im Einsatz, seinen Traumjob gefunden. Die moderne Medizin, das sehr selbstständige Arbeiten, die gute Teamarbeit und nicht zuletzt &bdquo;das überwältigende Gefühl, wenn es Menschen, die wir gepflegt haben, wieder besser geht und sie wieder gesunden". Für &bdquo;Schwester Gabi" alles Gründe, weiterhin für diesen Beruf zu kämpfen. Zum Thema: Alles zum Coronavirus Testzentren in OWL bieten wieder kostenlose Schnelltests an Nächster Lockdown in Deutschland? Experten fordern Notfallplan

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