Bielefeld So leben Analphabeten in Bielefeld

Bielefeld. Wer als erwachsener Mensch nicht lesen und schreiben kann, hat es schwer. Schließlich lernt das ja jedes Kind in der Schule. Eigentlich. Denn auch in Bielefeld leben zahlreiche funktionale Analphabeten. Doch wie kann das sein? Die Teilnehmerinnen eines Alphabetisierungskurses der Volkshochschule (VHS) haben im Gespräch mit nw.de erzählt, wieso sie trotz Schulpflicht nie gelernt haben, ein Buch zu lesen oder einen Brief zu schreiben. Eines ist den Frauen besonders wichtig: Sie möchten anonym bleiben. "Nicht einmal meine Familie weiß, dass ich diesen Kurs besuche. Ich habe allen erzählt, dass ich zu einem Bastelkurs gehe", sagt eine Teilnehmerin. Dass Analphabeten ihr Handycap geheim halten, ist laut Marion Döbert nicht ungewöhnlich. Sie ist Diplompädagogin und leitet bei der VHS den Fachbereich Gesundheit und Alphabetisierung. "Oft schämen sich die Leute. Allerdings haben sie eigentlich immer eine Vertrauensperson, die ihnen im Alltag hilft. Anders geht es einfach nicht", so Döbert. In der Schule durchgemogelt Das bestätigt einer Teilnehmerin. Sie ist in Deutschland geboren, besuchte hier die Grundschule und später auch die weiterführende Schule. "Ich habe mich durchgemogelt. In der Schule habe ich immer meine Sitznachbarin um Hilfe gebeten und ich habe fast alles auswendig gelernt", so die heute 55-Jährige: "Mein Kopf war wie ein Computer, ich habe mir alles gemerkt, weil ich ja nicht lesen konnte." Eine Bielefelderin kämpft und schreibt für Analphabeten Nicht einmal ihren Eltern habe sie von dem Problem erzählt, auch nicht ihren acht Geschwistern. Nach der neunten Klasse habe sie die Schule ohne Abschluss verlassen. Mit 17 Jahren sei sie dann von Zuhause ausgezogen, habe ein Jahr lang auf der Straße gelebt. Auch danach sei es in ihrem Leben nie wirklich rund gelaufen: "Einen richtigen Job hatte ich nie, ich habe schwarz gearbeitet, Möbel geschleppt oder Gräber gepflegt." Später sei sie dann immer wieder krank gewesen. Im Alltag helfen die Kinder "Oftmals kommen die Menschen aus Elternhäusern, in denen es kaum Unterstützung gibt. Oft arbeiten beide Eltern, es wird früh geheiratet und es leben viele Kinder im Haus. Meist hatten die Menschen, die jetzt zu uns kommen, kein eigenes Zimmer und keine Ruhe zum Lernen. "Mir hat ja nie jemand geholfen", das sagt fast jeder unserer Teilnehmer", berichtet Marion Döbert. Mehr Infografiken finden Sie bei Statista Eine Teilnehmerin berichtet, bisher immer auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen gewesen zu sein - sei es bei Behördengängen oder bei Arztbesuchen: "Das möchte ich aber nicht mehr, irgendwann ziehen meine Kinder aus und ich möchte endlich selbstständig leben". Sie stammt aus der Türkei und ist in einer jesidischen Glaubensgemeinde aufgewachsen. "Ich habe die Schule dort nur bis zur zweiten Klasse besucht, mehr war uns Mädchen damals nicht erlaubt", erinnert sie sich. Mit 15 Jahren habe sie dann geheiratet und sei nach Deutschland gekommen, doch auch hier habe die Unterstützung gefehlt: "Meine Familie hat einfach nicht verstanden, warum ich Schwierigkeiten hatte". Böse Überraschung beim Einkaufen Eine andere Teilnehmerin berichtet von ähnlichen Erfahrungen, sie stammt aus dem gleichen türkischen Dorf. "Anfangs habe ich immer offen zugegeben, dass ich nicht schreiben konnte. Ich war ja noch ganz neu in Deutschland. Später war es mir aber richtig unangenehm, denn ich konnte ja deutsch sprechen. Die Leute verstehen dann nicht, warum man nicht lesen und schreiben kann." Gearbeitet habe sie bis vor einigen Jahren an der Kasse in einem kleinen Lebensmittelgeschäft: "Es gab dort keine moderne Kasse zum Einscannen, und da ich nicht lesen konnte, bin ich morgens immer durch den Laden gegangen und habe die Preise von fast 1.000 Produkten auswendig gelernt." Doch auch, wenn sie selbst einkaufen gehen wollte, war es ein echter Spießrutenlauf: "Ich konnte ja nicht lesen, welcher Preis wozu gehört oder dass beispielsweise die Tomaten gerade reduziert sind. Es gibt ja nur selten Bilder an Preisschildern. Das war oft eine böse Überraschung beim Bezahlen." "Man fühlt sich wie ein blinder Mensch" Insgesamt bietet die VHS in Bielefeld 14 Alphabetisierungskurse an. Dass die meisten der Teilnehmenden Frauen sind, sei normal. "Das ist eine typische Situation, da Frauen auch heute noch oft benachteiligt sind und sie um ihre Familie kümmern müssen. Oft sind sie verantwortlich für ihre Eltern, die Kinder und den Haushalt, da ist es schwierig, kontinuierlich an so einem Kurs teilzunehmen", so Döbert. Dennoch: Der Wille ist oftmals groß. "Ganz egal, wie schlau man ist: Wenn man nicht lesen kann, fühlt man sich wie ein blinder Mensch. Als ich 2001 nach Bielefeld kam, hatte ich einen Termin bei einer Behörde, an der Tür stand ein Schild, auf dem "Bitte nicht eintreten" stand. Das konnte ich aber nicht lesen und bin trotzdem rein gegangen. Der Mitarbeiter fragte dann: "Sind Sie blind, können Sie etwa nicht lesen?" Ich habe mich so geschämt und bin schnell wieder raus gegangen", erinnert sich eine der Frauen. Echte Freundschaften entstehen Geschichten wie diese haben fast alle Teilnehmerinnen schon einmal erlebt. Im Kurs tauschen sie sich aus, manchmal fließen Tränen. "Das hier ist kein Schulunterricht. Wir kommen ins Gespräch und sind füreinander da, hier sind sogar schon echte Freundschaften entstanden", sagt Kursleiterin Anna Meise, die mit ihren Teilnehmerinnen mittlerweile schon einfache Bücher liest. Und eine 55-Jährige, die eigentlich nur wegen einer Vorgabe des Jobcenters zum Kurs gegangen ist, hat mittlerweile echten Gefallen an historischen Büchern in leichter Sprache gefunden: "Für Geschichte habe ich mich schon immer interessiert. Ich wollte aber eigentlich nicht herkommen, irgendwie kam ich ja immer durchs Leben. Aber wenn man einmal angefangen hat zu lesen, kann man einfach nicht mehr aufhören." Nicht völlig hilflos Der Umgang mit Computer und Smartphone ist für die Menschen im Alphabetisierungskurs übrigens kein Problem. "Es gibt ja Sprachassistenten, und man kann Nachrichten diktieren. Als ich zum ersten Mal einen Computer benutzen wollte, habe ich ihn leider zum Absturz gebracht, aber mittlerweile komme ich auch damit klar", sagt eine Teilnehmerin schmunzelnd. Orientieren könne sie sich übrigens teilweise besser als ihre lesenden Freunde: "Ich merke mir keine Straßennamen, sondern Gebäude oder bestimmte Bäume. Völlig hilflos bin ich also nicht." So unterschiedlich die Geschichten der Teilnehmerinnen auch sind, so haben sie doch eines gemeinsam: Ihnen fehlte in der Kindheit die Unterstützung. Doch nun möchten sie alles aufholen. Eines ärgert eine Teilnehmerin besonders: "Ich gebe alles, damit es meine Kinder einmal besser haben als ich. Von Nachbarn höre ich dann manchmal: "Super, was deine Kinder alles schaffen, obwohl du Analphabetin bist." Das macht mich immer wütend, denn ich bin ja nicht dumm." Eines Tages wolle sie gern hauptberuflich als Dolmetscherin arbeiten - und damit dieser Traum in Erfüllung geht, übt sie in jeder freien Minute Lesen und Schreiben.

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