Wer ist ein Migrant, wer nicht? Antworten auf eine sehr deutsche Frage

Bielefeld. Für Krijan Selvarajah ist es eine seltsame Frage. Ob er sich angesprochen fühle, wenn von Migranten die Rede ist? Kopfschütteln. Der Sohn tamilischer Eltern ist hier geboren, zur Schule gegangen, alles ganz normal. &bdquo;Ich bin zu 99,9 Prozent Ostwestfale", sagt der 25-Jährige. So ist sein Erleben. Für Menschen in seinem Alter ist es selbstverständlich, dass ein waschechter Bielefelder asiatisch-indische Merkmale aufweist, wie Krijan. &bdquo;Ich bin deswegen nie beleidigt oder benachteiligt worden", sagt er. Gehört Krijan nun zur Gruppe der so genannten Migranten? Ja und Nein. Wenn Ämter, Vereine oder andere Institutionen Anträge auf finanzielle Unterstützung stellen für Migrantenprojekte, werden Menschen wie Krijan zu Migranten erklärt, so wie Nachkommen ehemaliger Gastarbeiter in zweiter oder dritter Generation, Schweizer, Aussiedler oder 88-jährige Österreicher. Denn ein rechnerisch hoher &bdquo;Migrantenanteil" erhöht mitunter die Chancen auf Fördermittel. Diese Praktik drückt das Dilemma anschaulich aus, wie auch Emir Ali Sag aus dem Kommunalen Integrationszentrum der Stadt Bielefeld weiß. Auf der einen Seite kritisiert der Soziologe die Nutzung des Etiketts Migrant in seiner pauschalen Form für alle, die nicht hans-meyer-mäßig heißen und aussehen, auf der anderen Seite ist er auf diesen Stempel bei seiner Arbeit angewiesen. &bdquo;Wir müssen es teilweise machen, um bestimmte Minderheiten fördern zu können", sagt er. "Für mich spielte das nie eine Rolle" Sag warnt jedoch vor der Annahme, es handele sich bei den als Migranten klassifizierten Menschen um eine homogene Gruppe. Das Gegenteil ist der Fall. Und die meisten haben überhaupt keine Migrationserfahrung. &bdquo;Viele, die als Migranten bezeichnet werden, sind hier vor denen geboren, die dieses Einordnung nutzen." Knapp 135.000 Menschen haben diesen so genannten Migrationshintergrund in Bielefeld, beinahe 78.000 davon haben einen deutschen Pass, rund 55.000 sind Ausländer. Insgesamt machen sie fast 40 Prozent der Stadtbevölkerung aus. Göksu Güler gehört offiziell dazu, gefühlsmäßig jedoch nicht. Der 32-Jährige hat eine normale deutsche Kindheit und Jugend gehabt, später studiert, jetzt arbeitet er. Migriert von irgendwoher ist er nie. &bdquo;Für mich spielte das alles nie eine Rolle", sagt er. Für seine soziale Umgebung auch nicht. &bdquo;Vielleicht liegt es daran, dass ich mich nicht als Migrant fühle und das auch nie zum Thema mache", mutmaßt er. "Das Modell Kanada verlangt Assimilation der Einwanderer" Die Zuschreibung Migrant kommt mitunter auch von innen, wenn bestimmte ethnische oder religiöse Gruppen dadurch einen Vorteil erzielen oder Kritik an ihren internen Regeln verhindern wollen. Dafür wird unter anderem der Vorwurf des Rassismus benutzt. Es gibt auch Zuwanderer, die ganz offen die Fahne ihres ethnischen Herkunftslandes hochhalten. Sie wollen gar keine Deutschen sein. Auch das gibt es natürlich, ist aber ein eigenes Problem. Für Emir Ali Sag fehlt es generell an &bdquo;einer gewissen Leichtigkeit" bei diesem Thema. Und an Klarheit, wie der Bielefelder Soziologe Thomas Faist ergänzt. &bdquo;Der Begriff Migrant wird selbst bei den Organisationen der UN unterschiedlich genutzt", sagt der Professor der Uni Bielefeld. Hinzu kommen politische und ideologische Verzerrungen oder Verwischungen. &bdquo;Manche fassen darunter alle Formen sozialer Benachteiligung." Streng genommen, so Faist, sei nur derjenige Migrant, der einen Ortswechsel von einem Staat zu einem anderen von mindestens einem Jahr vornehme. Demnach würden zum Beispiel internationalen Studenten der Uni Bielefeld Migranten sein. Die aber sind selten damit gemeint. Neues Selbstverständnis über das "Deutschsein" Das Problem ist kaum mit einem Begriffswechsel zu lösen, wie ihn jetzt Ämter vornehmen, wo nun von &bdquo;Menschen aus Auswandererfamilien" statt Migranten gesprochen wird. Einst Gastarbeiter oder Ausländer, dann Migrant, Einwanderer oder was auch immer: Eine homogene Gruppe steckt nicht dahinter. Ein Faktor, der das Dilemma schwächen kann, ist die Zeit, die allmählich ein neues Selbstverständnis über das &bdquo;Deutschsein" bringt. Das gibt es möglicherweise bei der jungen Generation, wie die Beispiele Krijan und Göksu zeigen. In zahlreichen Schulklassen in Bielefelds sind Kinder von Eltern ohne jeden internationalen Anteil inzwischen eher eine Minderheit. So ist es ist möglich, dass sich etwas entwickelt, was in einem Land wie Kanada längst Realität ist. &bdquo;Dort nehmen sie sich als eine Nation von Immigranten wahr", sagt Soziologe Faist. Der kanadische Gründungsmythos mache es leichter, pauschale begrifflichen Zuschreibungen wie Migrant auszuhöhlen. Dafür brauche es jedoch einen klaren Rahmen für das Zusammenleben, wie Faist erklärt: &bdquo;Bei allem Multikulturalismus wird oft vergessen, dass das Modell Kanada die Assimilation der Einwanderer voraussetzt und verlangt. Und nur so funktioniert es."

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