"Wer Maßnahmen kritisiert, wird als Corona-Leugner abgestempelt"

Bielefeld. Langweilig ist Nicole Reese ganz bestimmt nicht: Die 47-jährige Juristin hat vier Kinder im Alter zwischen sechs und 13 Jahren, arbeitet als Professorin hier in Bielefeld an der Hochschule für Polizei und Verwaltung, setzt sich aber trotzdem seit Monaten oft abends noch bis Mitternacht an den Schreibtisch und formuliert Schreiben ans Schulministerium, die Bundes- und Landesregierung oder Behörden. Zusammen mit anderen Eltern – vorwiegend Müttern, Akademikerinnen, viele von ihnen haben wie Reese promoviert – die mit beiden Beinen im Beruf und im Leben stehen, engagiert sie sich bei der deutschlandweiten Initiative &bdquo;Familien in der Krise“. Und geht auch Themen an, die auf Gegenwind stoßen, wie Kritik an der Maskenpflicht im Unterricht und auf dem Schulhof. "Wer Maßnahmen kritisiert, wird schnell abgestempelt" &bdquo;Wer Maßnahmen kritisiert, wird oft schnell als Corona-Leugner abgestempelt“, sagt Reese. Sie habe durchaus die Brisanz des Themas erkannt. Aber mit Argumenten und wissenschaftlichen Belegen aufzuzeigen, warum man bestimmte Maßnahmen für nicht verhältnismäßig erachtet, müsse doch erlaubt sein. Für einige sei man dann gleich unsolidarisch. Sie erwarte aber, dass auch kritische Stimmen von Eltern und Medizinern, die nicht dem Mainstream entsprechen, gehört werden. Was sie antreibt, sei ihr großer Gerechtigkeitssinn – schon immer. &bdquo;Ich war recht früh ziemlich unzufrieden mit den Corona-Maßnahmen“, sagt Reese. Da ihr viele Gruppierungen zu destruktiv und realitätsfern waren, kam sie zur Initiative &bdquo;Familien in der Krise“. Die setzt sich unter anderem für eine Qualitäts- und Fachkräfteoffensive für den Bereich frühkindliche Bildung, eine zukunftsweisende Digitalstrategie an Schulen, Bildungsgerechtigkeit, die Stärkung der Kinderrechte und Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Berufsleben ein. Themen, die auch schon vor Corona wichtig waren. &bdquo;Aber jetzt in der Krise sind die Defizite noch viel stärker deutlich geworden“, sagt Reese. Die Zeit des Homeschoolings habe sie als extrem anstrengend, teils kaum machbar empfunden. &bdquo;Und das, obwohl wir Haus, Garten und Tablets haben“, sagt Reese. Für viele Familien sei das noch eine ganz andere Nummer, für viele Kinder ein herber Rückschlag. Ein Punkt, weshalb sich die Initiative sich immer wieder an die Politik gewandt hat mit der Forderung, Schulen und Kitas auf jeden Fall nicht wieder zu schließen. Trotzdem habe sie den Eindruck, dass es da jetzt in erster Linie nicht um die Kinder selbst, sondern darum gehe, dass die Eltern in Ruhe arbeiten können. "Menschen brauchten Sozialkontakte, weniger den erhobenen Zeigefinger" Vieles sei ungerecht und wenig überzeugend. &bdquo;Warum darf ein deutscher Fußballclub in Prag vor Publikum spielen, unsere Kinder aber hier nicht mehr zum Fußballtraining gehen?“, fragt Reese. Menschen brauchten Sozialkontakte, weniger den erhobenen Zeigefinger. Lieber sollte man schauen, wie die Menschen der Risikogruppe jetzt besser geschützt werden können, als Kinder und Familien noch immer weiter zu reglementieren, hält die Juristin für wesentlich sinnvoller. Viele Kinder hätten Angst und Schuldgefühle, wenn sie jetzt noch Kontakt mit ihren Großeltern hätten. Das dürfe doch einfach nicht sein. Auch Tim Seidel hat vier Kinder. Er lebt in einer Patchworkfamilie, arbeitet als selbstständiger Versicherungsmakler und engagiert sich seit knapp zwei Jahren im Stadtelternrat. &bdquo;Das wichtigste sind unsere Kinder und ihre Bildung“, sagt der 37-Jährige. Er habe dafür gern vor Ort etwas machen wollen, aber nicht in einer Parteizugehörigkeit. &bdquo;So kann ich aber schon in der Verwaltungsarbeit mitmischen, in Gremien wie dem Schulausschuss oder der Schulentwicklungsplanung dabei sein und den Bielefelder Eltern eine Stimme geben“, begründet er seine Motivation. Das abgesagte Verkehrssicherheitstraining mit der Polizei, ein digitaler Elterninfoabend zu den Gefahren im Internet, Forderungen nach einer Reduzierung der Klassengröße: Per WhatsApp-Gruppe informiert er rund 130 interessierte Eltern regelmäßig über aktuelle Themen. &bdquo;Ich bekomme viel mit, schnappe viel auf“, sagt Seidel. Er wolle andere Eltern motivieren, sich ebenfalls für die Belange ihrer Kinder einzusetzen. Disco im Wohnzimmer, damit die Decke nicht auf den Kopf fällt Und das Engagement und die vielen guten Ideen aus den Schulpflegschaften bündeln. Viel nach draußen, mit der kleinen Tochter weiter Fahrradfahren üben, hat er sich jetzt privat vorgenommen. Bewegung und frische Luft, damit die eigenen vier Wände nicht noch enger werden, so seine Devise für den mit vielen Einschränkungen verbundenen November. Und was, wenn’s jetzt wirklich nicht klappt? Dass die Zusage für den Kita-Platz für ihre jüngste Tochter in Frage stand, war für Susann Purucker der Auslöser, sich im Jugendamtselternbeirat zu engagieren. Das Gremium aus ehrenamtlichen Eltern mit Kindern im Kita-Alter macht sich für die Jüngsten stark, steht teils verzweifelten Eltern für alle Fragen zur Verfügung. Der Fachkräftemangel ist ein Thema, das der vierfachen Mutter, die mit ihrer Familie in Bielefeld lebt und als Geoinformatikerin in Porta Westfalica arbeitet, besonders am Herzen liegt. Sich mit anderen Initiativen über die Stadtgrenzen hinaus zu vernetzen, gemeinsam für die Themen zu kämpfen, motiviere sie, gerade auch jetzt in der nicht einfachen Zeit. Damit ihrer Familie zuhause nicht die Decke auf den Kopf fällt, wo so vieles ausfällt, setzt Purucker auf Gute-Laune-Hits und Bewegung. &bdquo;Wir veranstalten bei uns im Wohnzimmer immer mal wieder eine kleine Familien-Disco“, berichtet die 34-Jährige.

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