Krankenpfleger während Corona: "Bei Massenanfall wäre System kollabiert"

Bielefeld. Herr Sigrist, Sie arbeiten als Krankenpfleger auf der Intensivstation am Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB). Die Pflege-Branche hat seit Beginn der Corona-Krise viel Lob und Anerkennung erhalten. Wie fühlt sich das an? Ulrich Sigrist: Corona hat das Interesse an der Pflege erhöht. Das freut mich natürlich. Doch ich befürchte, dass das schnell wieder verpuffen wird. Einige Bürger sind während der Krise abends auf ihre Balkone gegangen, um den &bdquo;Helden des Alltags" Beifall zu klatschen und ihnen zu danken ... Sigrist: Das Klatschen und der Applaus sind eine nette Geste. Aber das hilft uns nicht weiter. Ich fühle mich als Krankenpfleger nicht wichtiger als eine Reinigungskraft oder ein Kassierer im Supermarkt. Und dennoch hat sich Ihr Alltag in den vergangenen Wochen verändert, oder? Sigrist: Ja, die Krankenhäuser haben sich in kurzer Zeit auf die Corona-Situation vorbereitet. Wir Pfleger haben Abläufe trainiert, Schutzkleidung erhalten, ehemalige Intensivpflegekräfte wurden reaktiviert. Auch jetzt halten wir noch immer 30 Prozent der Betten für Corona-Patienten frei. Jeder Patient mit Corona-Verdacht kommt in ein Corona-Bett. Wir haben die Zeit gut genutzt, hatten aber auch viel Glück. Was meinen Sie damit? Sigrist: Ich glaube, bei einem Massenanfall wäre das System hier vor Ort kollabiert. Die Anforderungen sind gewachsen, aber der Personalschlüssel wurde nur indirekt durch Bettenschließungen erhöht. Auch Schutzkittel und Mundschutz in den Kliniken hätten vermutlich nicht ausgereicht. Wir hatten großes Glück, dass die Situation in Bielefeld so glimpflich verlaufen ist. Haben Sie Corona-Patienten betreut? Sigrist: Ja. Das habe ich aber als nicht so bedrohlich wahrgenommen. Ich fühle mich im Krankenhaus sicherer als zum Beispiel in einem Altenheim. Um was für Patienten handelt es sich? Sigrist: Ohne ins Detail zu gehen, kann ich sagen, dass nur ein kleiner Personenkreis schwer erkrankt ist. Fakt ist, dass auch junge Menschen ohne Vorerkrankungen und unter Umständen auch Kinder erkranken können. Solange es noch keinen Impfstoff gibt, heißt es: Abstand halten. Wird sich die Pflegebranche durch Corona verändern? Sigrist: Das haben wir auch selber in der Hand. Wir Pflegekräfte müssen uns viel besser organisieren. Das sind bislang nur 5 bis 10 Prozent. Motzen allein reicht nicht. Dadurch ändert sich nichts. Wir müssen mit den Arbeitgebern sprechen. Es wäre wesentlich mehr möglich, wenn Pflege politischer würde. Was fordern Sie? Sigrist: Pflegekräfte halten es durchschnittlich nur sieben Jahre im Beruf aus. Das sagt doch schon alles. Dann wechseln sie – gehen studieren, heiraten, bekommen Kinder oder wechseln in Teilzeit. Eine volle Stelle schaffen aufgrund der Belastung nur wenige Pflegekräfte. Darauf müssen sich Arbeitgeber einstellen und flexibler werden. Ein Beispiel wäre die Einführung von altersgerechten und flexiblen Dienstplänen. Was kritisieren Sie noch? Sigrist: Das Kernproblem ist und bleibt der Pflegenotstand – unabhängig von Corona. An den ist man bislang nicht rangegangen. Die Folge ist, dass Pfleger oft viel zu viele Patienten betreuen müssen und für den Einzelnen kaum noch Zeit haben. Auch die Fallpauschalen sind einProblem. Sie sollen die Leistungen der Krankenhäuser finanzieren. Für Beatmungen oder große Hüft-Operationen erhalten die Kliniken viel Geld. Kleinere Eingriffe rentieren sich hingegen nicht. Vor allem in Privatkliniken werden Patienten vorschnell entlassen. Was schlagen Sie vor? Sigrist: Um die Lage im Gesundheitssystem zu verbessern, ist es nötig, dass Pflegende sich in der Gewerkschaft und in Bündnissen für ein solidarisches Gesundheitssystem aktiv organisieren. Erste Ziele müssen sein, dass das Pandemiegesetz wegfällt und dass Personaluntergrenzenaktiviert werden. In diesem Jahr finden Tarifverhandlungen statt. Ich kann nur empfehlen, in eine Gewerkschaft einzutreten. Nur, wenn viele Pflegende sich organisieren, springt bei den Tarifverhandlungen eingutes Ergebnis heraus.

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