In die Friseurinnenklasse gesteckt: Wie ein Bielefelder Junge fast im System verlorenging

Bielefeld. Als einziger Junge in einer Friseurinnenklasse &bdquo;und todunglücklich“. Er erinnere sich immer noch an einen jungen Mann, der in eine für ihn &bdquo;absolut unpassende Berufsvorbereitung gesteckt wurde, nur um ihn unterzubringen“, berichtet Henner Husemann. Begeistert weiterkämpfen oder frustriert aufgeben: &bdquo;Gerade Jugendliche, die mit 14 oder 15 Jahren als Geflüchteter nach Deutschland kommen, haben es unglaublich schwer“, sagt der 76-jährige ehemalige Schulleiter. &bdquo;Wir müssen etwas tun gegen die Ungerechtigkeit im Bildungssystem“: Mit dieser Motivation gründete er zusammen mit seiner Frau und anderen Pädagogen deshalb bereits vor 20 Jahren &bdquo;Tabula“. Mit Angeboten wie der Ferienschule, Bildungspaten in Schulen, Theater- und Sportprojekten, heute 100 Ehrenamtlichen ganz unterschiedlicher Altersklassen, und dank Förderung von Unternehmen wie Goldbeck hilft der Verein Kindern, selbstbewusst ins Leben zu ziehen. Sprache sei da der Schlüssel. Nach zwei Jahren in einer Internationalen Klasse, wo sie schwerpunktmäßig Deutsch lernen, kämen die vom Krieg traumatisierten Jugendlichen in die Regelklassen. &bdquo;Oft schaffen sie dann ihren Schulabschluss nicht, bekommen keine Lehrstelle, werden hin- und hergeschoben und in irgendeine Berufsschulklasse gesteckt, die gar nicht zu ihren Neigungen und Talenten passt“, sagt Husemann. Das sei ein strukturelles Problem. Korrigieren, ohne zu zensieren und zu beschämen Abgestempelt als Verlierer oder als Super-Typ auf der Theaterbühne vor großem Publikum gefeiert: Tabula helfe dabei, dass möglichst viele die persönliche Erfolgsspur einschlagen können. &bdquo;Wir geben ihnen ganz viele Gelegenheiten, sich auszudrücken, und sehen nicht immer nur die Defizite“, sagt Gudrun Husemann, die bis zu ihrer Pensionierung als Lehrerin an der Laborschule gearbeitet hat. &bdquo;Wir korrigieren, ohne zu zensieren und zu beschämen.“ Lesen Sie auch: Junge Bielefelderin kämpft sich durch Bildung nach oben – und zieht viele mit Er frage sich heute auch oft, was er ohne Tabula geworden wäre, sagt Shpreson Plavos. Er ist in Deutschland geboren, &bdquo;aber zuhause haben wir nur Griechisch gesprochen“, erinnert sich der heute 28-Jährige. Deutsch habe er dann in der Kita gelernt. In der Grundschule habe er aber dann Schwierigkeiten mit Grammatik und Rechtschreibung gehabt. Über einen Freund sei er dann zu einem Tabula-Theaterprojekt gekommen. &bdquo;Und ich habe gemerkt, dass sich mein Sprachgebrauch und auch mein Selbstbewusstsein verbessert haben“, berichtet Plavos. Auch als er später Probleme im Fach Englisch hatte, habe der Verein ihn mit kostenloser Nachhilfe unterstützt. Ob auf der Bühne oder hinter den Kulissen: Viele Jahre habe er leidenschaftlich bei den Theaterprojekten mitgemacht. Und später dann auch selbst Sportangebote des Vereins geleitet und andere Kinder unterstützt. &bdquo;Tabula war mein zweites Zuhause“, sagt Plavos. Auch Schule kann Spaß machen Er schaffte den Hauptschulabschluss mit Q-Vermerk, wechselte in die Oberstufe an die Martin-Niemöller-Gesamtschule. Auch da habe er glücklicherweise eine Lehrerin gehabt, die ihn unterstützt hat, den für ihn richtigen Weg zu finden. &bdquo;Sie hat gemerkt, dass ich auf der Schule nicht wirklich glücklich war, weil ich mich mehr für Wirtschaft interessiert habe“, berichtet Plavos. Sie habe ihn bestärkt, aufs Berufskolleg zu wechseln. Nach erfolgreicher Ausbildung zum Kaufmann im Einzelhandel mit Schwerpunkt Kommunikation arbeitet der 28-Jährige heute als Geschäftskundenbetreuer für die Telekom. Der Beruf mache ihm sehr viel Spaß und passe einfach gut zu ihm, sagt er. Und auch Schule kann Spaß machen: &bdquo;Das wollen wir den Kindern in unseren Ferienangeboten vermitteln“, sagt Gudrun Husemann. Lehramtsstudierende und Ehrenamtliche aus ganz unterschiedlichen Berufen unterstützen den Verein dabei. Auch heute noch sind Husemanns einen Nachmittag pro Woche in der Realschule Jöllenbeck und helfen Kindern mit Förderbedarf Sprache bei ihren Hausaufgaben. &bdquo;Wir haben uns als Gruppe so gut aufgestellt, dass es nicht zu verpflichtend ist und es auch nicht schlimm ist, wenn man mal nicht kann.“ Sie haben selbst zwei erwachsene Kinder und vier Enkelkinder. Und seien selbst über den zweiten Bildungsweg zu ihrer Berufung gekommen. &bdquo;Ich habe nach der Realschule erst eine Ausbildung zum Maschinenschlosser gemacht, dann mein Abitur nachgeholt und Lehramt studiert“, berichtet Henner Husemann. Seine Frau startete als Erzieherin. Vielen Grundschulkindern fehlen die wichtigsten Grundlagen Bildungsungerechtigkeit und Sprachprobleme habe es schon vor 20 Jahren gegeben. Aber die Probleme hätten sich verschärft, längst nicht nur bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte. Oft fehlten Grundschulkindern die wichtigsten Grundlagen. Alle Kinder mitzunehmen, sei die Mission von Tabula. &bdquo;Nicht auf die Schwächen gucken, sondern Schätze suchen.“ Mehr dazu: Übersättigte, unruhige Kinder: Neuer Bielefelder Schulleiter spricht Klartext Die Kinder nähmen auch heute noch analoge, kreative Angebote sehr dankbar an, wenn man sie entsprechend heranführe. &bdquo;Am tollsten fand ich, dass wir Obst und Gemüse für die Schweine schneiden und sie füttern durften“, berichtete ein junger Teilnehmer der Ferienschule auf dem Tiergnadenhof Dorf Sentana jetzt im Sommer. Weitere Ehrenamtliche und Spende sind immer willkommen. Weitere Infos zum Verein: www.tabula-bielefeld.de

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