Berlin/Bielefeld. Unser Blick auf Insekten ist von Widersprüchen geprägt. Persönlichen: So findet niemand einen Mückenstich prima. Und doch wissen wir, dass die Plagegeister wichtig sind. Gesellschaftlichen: So liebt der Deutsche sein Fleisch, am besten schön billig. Dass dahinter eine Landwirtschaft steht, die Insekten tötet? Egal, wird verdrängt. Durchaus möglich, dass Alois Gerig (CDU, Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Landwirtschaft) Recht hat, wenn er jetzt bei der Podiumsdiskussion am Tag der Insekten in Berlin sagt: „Jeder deutsche Bauer weiß genau, was er an Insekten hat." Doch: Handelt auch jeder nach dieser Erkenntnis?
Widersprüche über Widersprüche
Widersprüche aller Orten. Widersprüche, die auch die beiden Hauptakteure des Tages, sie kommen beide aus Bielefeld, einräumen müssen. Professor Johannes Vogel, als Direktor des gewaltigen Berliner Naturkundemuseums Gastgeber, und Hans-Dietrich Reckhaus, als Insektenvernichtungsmittelhersteller Organisator und Finanzier der zweitägigen Veranstaltung - über "Insect Respect". Ihre Widersprüche? Vogel: „Wir als Museum wollen das Leben retten und sind doch ein Haus des Todes – mit 28 Millionen toten Tieren."

Reckhaus' Widersprüche sind enorm - und doch plausibel
Noch eklatanter sind Reckhaus Widersprüche. „Ich muss vor meinen Produkten warnen – zudem versuche ich, insektenfreundliche Lebensräume als Kompensation zu entwickeln, ", sagt er unumwunden. Moderatorin Nina Ruge ergänzt das vor 250 geladenen Gästen mit dem Hinweis darauf, dass die Gewinne des Mittelständlers seit 2013 um 80 Prozent eingebrochen seien. Nur ein Zufall, dass die Zahl der Insekten in Deutschland ebenfalls um etwa 80 Prozent eingebrochen ist, wenn auch seit 1990.

„Ich will vom Insekten-Töter zum Insekten-Retter werden."
Reckhaus zu seinem persönlichen Widerspruch: „Ich will vom Insekten-Töter zum Insekten-Retter werden." Starke Worte, bei ihm durchaus glaubwürdig. Worte, wie sie jeder Politiker, jeder Lobbyist ähnlich wählen könnte. Und auch wählt. Seit Jahrzehnten. Das klagt ZDF-Umweltredakteur Volker Angres an – und Ralf Schulte vom NABU pflichtet ihm bei. Angres, fast möchte man ihm den Spitznamen „angry" (wütend) geben, kreidet der Politik viel Versagen an. Die Römischen Verträge von 1957 seien noch immer maßgebend für die Landwirtschaft in Europa – mit dem (Nachkriegs-)Kernziel „Produktivität steigern". Mögliche Veränderungen zu Gunsten der Bio-Diversität, also auch des Insektenschutzes, seien längst hinter den Kulissen wieder einkassiert worden, wie gehabt werde in der EU Landwirtschaft über die Größe gefördert und nicht über die Produktion von Vielfalt oder die biologische Ausrichtung. Sollten dann noch nach der Europa-Wahl politische Rechts-Ausleger gestärkt worden sein, sieht Angres schwarz für den klaren Kurswechsel, den er fordert.

Selbst im Bundesnaturschutzgesetz ist Naturschutz "Abwägungssache"
Da aber selbst das Bundesnaturschutzgesetz den Naturschutz nur als „Abwägungssache" definiert, ist er wenig optimistisch. Ein Szenario: Die Bestäubungs-Leistung nur der Honigbienen in Deutschland werde mit jährlich zwei Milliarden Euro bewertet - „aber schon in 30 Jahren könnte es sein, dass wir Menschen in die Bäume klettern müssen". Also: Pollen auf Blüten tupfen müssen. Angres: „Wir verdanken unser Leben den Leistungen der Natur, es braucht hier eine neue Ethik." Nina Ruge kommentiert das fragend mit „Sind wir als Spezies nicht schlicht zu gierig?"

Verbraucher oder Politik? Wer muss handeln?
Eine Frage, die zur üblichen Debatte führte – wer soll und muss handeln? Gerig zeigte auf die Verbraucher, die sonntags in Bayern für den Insektenschutz abstimmten und montags die billigste Nicht-Bio-Milch kauften, Angres zeigte auf die Politik, forderte eine Mehrwertsteuerbefreiung für Produkte mit blauem Umweltengel und eine Kehrtwende auf EU-Ebene. Und: „Ja, es wird für uns Verbraucher teurer, das müssen wir akzeptieren." Bio müsse der Standard sein. Dass nur 8,2 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen biologisch bewirtschaft würden, spreche für sich.

Reckhaus: "Die Wirtschaft hat das Thema noch gar nicht erkannt"
Reckhaus moniert, dass sich auch die Wirtschaft drehen müsse - „sie hat das Thema Bio-Diversität fast gar nicht erkannt, das gilt auch für eine Kreislaufwirtschaft." Wer ausschere, wie er, gerate in Schwierigkeiten: "Mein Branchenverband lädt mich seit Jahren nicht mehr ein, und im Handel sind mir nur drei Abnehmer geblieben, die auf mich setzen." Reckhaus: „Ich bin das schwarze Schaf oder das grüne, wie Sie wollen." Doch er werde weitergehen - „ich baue unser Unternehmen um, wir sind auf dem Weg vom Insektenvernichter zum Landschaftsgartenbetrieb; und wir arbeiten an Lebendfallen für Insekten."
Vogel: "Wir kapieren nicht, dass wir Teil des Ganzen sind"
Er glaube, dass sich viele Unternehmen profilieren könnten, wenn sie die Bio-Diversität zu ihrem Thema machten. Doch kommt es soweit? Schulte sieht „starke Beharrungskräfte" in der Gesellschaft, und Vogel stellt klar: „Fünf vor zwölf ist ein Schönreden der Situation – wir müssen die Natur systemisch in die Mitte unseres Denkens und Handelns stellen, wir wissen schon so viel, aber wir kapieren nicht, dass wir Menschen Teil des Ganzen sind."