Games

"Evil West" im Test: Das vermutlich am meisten unterschätzte Spiel des Jahres

In dem linearer Shooter im Oldschool-Gewand spielen wir einen grummeligen Cowboy-Vampirjäger im Wilden Westen. Die Grafik ist mau, die Level schlauchig. Wie konnte dieses Spiel bloß zu unserem Geheimtipp werden?

Von allen Seiten will man uns nach dem Leben trachten, aber Jesse Rentier hat den Handschuh der Macht. | © Focus Home Interactive

Christian Lund
28.12.2022 | 28.12.2022, 12:37

Ok, lasst es uns so sagen: Wir hatten "Evil West" zunächst überhaupt nicht auf dem Schirm. Dann hat uns jemand den Link zu einem Trailer geschickt, und wir sahen eine Mischung aus "Blade", "Van Helsing", "Wild Wild West" und allerlei anderen Untoten-Filmen und -Games, untermalt mit einem hervorragenden, um nicht zu sagen: bissigen Soundtrack. Aber es sah auch sehr oldschool aus, geradezu nostalgisch. Sollten wir das wirklich wagen? Spoiler: Wir wagten es, und ihr solltet das auch tun, denn ansonsten verpasst ihr möglicherweise eines der besten Action-Shooter dieses Jahres.

"Evil West", entwickelt von dem polnischen Studio "Flying Wild Hog" und veröffentlicht von Focus-Entertainment, ist ein Third-Person-Action-Shooter. Wir spielen Jesse Rentier (sprecht es fett amerikanisch mit einer gehörigen Portion Kautabak unter der Zunge aus – der Mann hat nämlich nichts mit dem Weihnachtsmann und seinen Tieren zu tun), einen Vampir- und Monsterjäger aus familiärer Tradition. Sein Vater hat einst eine Geheimorganisation (klar, was sonst) aufgebaut, die sich zur Aufgabe gemacht hat, alle Beißer und Untoten und Werwölfe und Dämonen von der Erdoberfläche zu entfernen und die alternative Welt des Wilden Westens vor dem Einfluss von übernatürlichen Kräften und Subjekten zu bewahren. Soweit, so Dracula.

Jetzt hat sich allerdings eine Vampirin, die uns etwas an eine Kreuzung aus Chucky und der bösen Version von Claudia aus "Interview mit einem Vampir" erinnert, überlegt, den Menschen den vollständigen Garaus zu machen. Und das kann Jesse ihr natürlich nicht durchgehen lassen. Es heißt nun: Waffen laden, aufsatteln – und los ins Ungewisse.

Was uns gefallen hat

Die leuchtenden Ketten zeigen uns: Hier können wir herunterklettern (weiter hinten auch wieder hinauf). Oben links brennt noch der Zug, den wir eigentlich überfallen wollten – und unten warten schon die Monster auf uns. - © Focus Home Interactive
Die leuchtenden Ketten zeigen uns: Hier können wir herunterklettern (weiter hinten auch wieder hinauf). Oben links brennt noch der Zug, den wir eigentlich überfallen wollten – und unten warten schon die Monster auf uns. | © Focus Home Interactive

Das Setting des Wilden Westens und die Vampirjäger-Story hat bei uns schon immer verfangen (kennt noch jemand das PS2- und Xbox-Spiel "Darkwatch"?). Damit hat uns das brachiale "Evil West" sofort begeistert, aber die Umsetzung, das Gameplay, der Charme des "Ist uns Entwicklern völlig egal, dass man Spiele 2022 anders designt", das alles entwickelt schnell einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Wir haben das vorher auch nicht geglaubt, aber es ist so.

Gleich die ersten zarten Kämpfe fühlen sich ungeheuer wuchtig an. Unsere Standardausrüstung zu Beginn des Spiels vermittelt den Eindruck, damit schon manchen Vampir für immer aus dem Leben schießen zu können. Unsere Monsterjäger-Organisation hat offenbar in Waffen von einigem Wert investiert. Das Schöne ist: In unserer Heimatbasis versteckt sich hinter einem alten, riesigen Whiskey-Fass ein geheimes Labor, wo neue Waffengattungen entwickelt werden. Und so können wir unseren Jesse nach und nach mit weiteren Upgrades versorgen, die wirklich fette Laune in der Bedienung machen. Besonders die Elektropunk-Upgrades. Da britzelt es nur so im Controller.

Ein kleines, aber völlig ausreichendes Perk-System lässt uns die Fähigkeiten verbessern, und wir haben außerdem die Möglichkeit, unsere Fähigkeiten gegebenenfalls neu zu verteilen, wenn wir die falschen Entscheidungen getroffen haben. Trotzdem hatten wir an keiner Stelle das Gefühl, dass die Balance des von uns gewählten Schwierigkeitsgrads zu sehr zu unseren Gunsten ausschlägt, je besser wir werden. Im Gegenteil: Auch im sehr leichten Story-Modus fühlen sich die Boss-Kämpfe in den höheren Kapiteln sehr schwierig an. Nur Ballern bringt dann nichts mehr, sondern man muss schon seine Fertigkeiten auch einsetzen können (aufs Timing achten beim Ausweichen!)

Die Missionen und Level in "Evil West" sind im Grunde eine Aneinanderreihung von Kampf-Arenen mit Flurstücken dazwischen. Das Spiel wirkt auf der einen Seite so schlauchig und altmodisch, ist auf der anderen Seite aber so raffiniert, dass wir uns dabei ertappt haben, jedes Areal bis auf den letzten Fitzel der Fläche abzusuchen. Denn oft sind Geheimgänge versteckt, an deren Ende wir einzigartige Truhen mit wichtigen Schätzen finden können, oder wir entdecken Rätsel, die es zu lösen gilt. Open World ist das natürlich nicht. Aber die Level sind optisch wirklich abwechslungsreich gestaltet. Und wir müssen einmal kurz lobend erwähnen, dass Menschen mit Spinnen-Phobie die Chance haben, die krabbeligen Tiere auszuschalten. Empfehlen wir auch, wenn ihr anfällig seid dafür.

Wir empfehlen außerdem, für die Cut-Szenen deutsche Untertitel einzuschalten, denn Jesse Rentier nuschelt sich derart was zurecht, dass er oft nur schwer zu verstehen ist. Vermutlich muss mit zusammengepressten Kiefern ein Zahnstocher vom einen Mundwinkel zum anderen befördert werden. Wer will es ihm verdenken. Positiv: Für Blindfische wie uns ist die Größe der Untertitel anpassbar.

Was uns nicht gefallen hat

Für eine Flasche "Royal Beer" kommen wir gerne zurück in den Saloon. Was kaum jemand weiß: Im Keller ist das geheime Labor unserer Organisation. - © Focus Home Interactive
Für eine Flasche "Royal Beer" kommen wir gerne zurück in den Saloon. Was kaum jemand weiß: Im Keller ist das geheime Labor unserer Organisation. | © Focus Home Interactive

Natürlich haben wir auch was zu meckern. Fangen wir mit den Kapiteleinführungen an: Bei jedem neuen Kapitel werden wir schriftlich in die Geschichte eingeführt. Der Ladebalken allerdings läuft so schnell, dass die mehrzeilige Kapiteleinführung nur zwei bis drei Sekunden aufblitzt und schneller wieder weg ist, als Lucky Luke schießen könnte. Das muss man besser lösen, denn so hatten wir immer das Gefühl, möglicherweise wichtige Informationen verpasst zu haben.

Geritten wird immer nur in den Zwischensequenzen. Wir hätten definitiv gerne mal eine Mission gespielt, bei der wir vom Pferd aus unsere blutrünstigen Gegner umnieten müssen. Stattdessen sind wir eben immer nur zu Fuß unterwegs. Ist aber vielleicht für die Pferde auch gesünder. Daran muss man als Cowboy ja auch denken.

Wir haben ansonsten trotz Patch auf unserer PS5 noch ein paar Grafik- und auch Sound-Bugs gehabt, aber im Grunde fiel das nicht unangenehm auf. Man könnte aber auch sagen: das Spiel wirkt erstaunlich fertig – daran könnten sich manche AAA-Spiele mal ein Beispiel nehmen. Schade finden wir, dass wir dieses hübsche, aus der Zeit gefallene Game nicht auch oldschool lokal im Koop-Modus spielen können – online geht das aber natürlich. Das hätte uns noch mehr überzeugt. Aber eigentlich ist das hier auch schon Meckern auf hohem Niveau.

Unser Fazit

Die Hauptstory (16 Missionen) haben wir nach rund 12 Stunden Spieldauer durch. Das ist okay, dürfte aber auch noch ein paar mehr Stunden bieten, denn immerhin ist das ungemein kreative Spiel als Vollpreis-Spiel auf den Markt gekommen. Derzeit bekommt man es allerdings für einen fairen Preis. Der Wiederspielwert für das unkomplizierte, sehr unterhaltsame und astrein spielbare Abenteuer "Evil West" ist hoch, das können wir sagen, denn wer einmal gegen einen Vampir die Faust mit dem elektrischen Handschuh ausgefahren hat, der will das noch mal. Und noch mal. Und noch mal. Und ... . Wir hoffen schon jetzt auf eine Fortsetzung in "Evil West 2".

Evil West ist für PlayStation 4, PlayStation 5, Xbox One, Xbox Series X|S und PC verfügbar, ist ab 18 Jahren freigegeben und kostet derzeit rund 45 Euro.