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"Cyberpunk 2077" im Test: Die Technik eine Frechheit, der Rest eine Wucht

Über ein Spiel, das einmal das Beste sein wird. Wenn es irgendwann nicht mehr so voller Fehler ist.

Für rote Haare guckt einen in der Welt von Cyberpunk 2077 niemand mehr schräg an. Hier entfernen sich manche für drei neue Augen die komplette Stirn. | © CD Projekt Red

18.12.2020 | 13.06.2025, 09:45

Bevor wir uns hier mit einer langen Hinführung aufhalten oder einen kunstvollen Erzählbogen hin zum Fazit aufspannen, zunächst die Antwort auf die Frage, die Millionen Spieler sieben Jahre lang umtrieb: Ist "Cyberpunk 2077" der erhoffte, daseinsverändernde nächste Schritt für Computer- und Videospiele? Ja, teilweise ist es das. Wenn Ihr es denn spielen könnt.

Worum geht es im Spiel?

In der Megastadt Night City schlagen wir uns inmitten eines Krieges verfeindeter Megakonzerne mehr schlecht als recht durchs Leben. Die Menschheit lebt mittlerweile selbstverständlich augmentiert, also mit Cyber-Implantaten verbessert. Doch die können auch zu Psychosen führen. Gigantische Wohnblocks reihen sich dicht an dicht, Gangs liefern sich Straßenschlachten mit Cops, und die Strippenzieher im Hintergrund sind auf der Suche nach dem neuen großen Cyberding, um das Schicksal auf ihre Seite zu bekommen. In Night City heißt das vor allem: einen Haufen Eddies (Eurodollar) zu verdienen.

Als Corpo (Konzern-Ausputzer), Streetkid oder Nomade aus dem von Industrie und Armut bestimmten Umland werden wir in diese Welt geworfen, die uns anfangs mit ihrer Größe, den vielen neuen Begriffen und Möglichkeiten schlicht überfährt. Doch schnell wird klar: Auch wir müssen hier zusehen, wo wir bleiben. Mit mal mehr und mal weniger zwielichtigen Jobs verdienen wir Geld, Erfahrung für unseren Talentbaum und einen Haufen cooler Cyberware, mit der wir unseren Charakter stetig verbessern. Und um auch das Gerücht zu bestätigen: Ja, man kann sich einen Riesenpenis an den Charakter basteln. So.

Sogenannte Ripperdocs bauen uns allerlei künstliche Organe ein. Ein schnelles, aber teures Vergnügen - mit Folgen. - © CD Projekt Red
Sogenannte Ripperdocs bauen uns allerlei künstliche Organe ein. Ein schnelles, aber teures Vergnügen - mit Folgen. | © CD Projekt Red

Der wichtigste Fokus liegt aber auf der Story. Zwar lenken etliche Icons auf der Minimap immer wieder sanft, aber bestimmt vom Haupterzählstrang ab, doch vorrangig folgen wir der Geschichte unseres Charakters, der/die immer V heißt und sich je nach unseren Vorlieben schleichend, hackend oder schießend durch die Welt bewegt.

Wann ist das Spiel am besten?

Wie großartig dieses Programm sein kann, beweisen zunächst mal die unzähligen handgeschriebenen Nebenquests, von denen wir ständig neue freischalten. Wenn wir uns zum Beispiel durch einen Stripclub voller bewaffneter Irrer schleichen, ständig zwischenspeichern, um ja nicht entdeckt zu werden, und dann entsetzt feststellen, dass das Ganze schon fast zwei Stunden dauert (für eine Nebenquest!).

Als dann unser Ziel, der Boss von's Ganze (Marke Menschenhändler), schlafen gelegt ist, heißt es aber nicht etwa: Geld her, Erfahrungspunkte her, Fanfaren, nächste Quest. Nein! Jetzt, teilt uns das Tagebuch überraschend mit, soll der gelackte Heinz aus dem Etablissement auch noch unbemerkt nach draußen gebracht werden. Also nochmal vorbei an all den Rausschmeißern mit den roten Cyberaugen?

Zum Glück lässt uns das Spiel die Freiheit, uns einfach aus dem dritten Stock auf unsere kybernetisch verstärkten Beine fallen zu lassen. Jetzt aber: Fanfaren, Erfahrungspunkte, Eddies. Und die leicht bange Frage: Wenn wir so in einer Nebenquest versinken, was geht dann erst in den Hauptmissionen?

Da geht tatsächlich erst recht die Luzi ab. Und zwar von Anfang an. Ihr müsst noch nicht einmal dem sagenumwobenen Star des Spiels, Johnny Silverhand (gespielt von niemand geringerem als Keanu Reeves), begegnet sein, da habt Ihr schon Szenen erlebt, in denen Euch das Spiel am Herzen packt und erbarmungslos zudrückt. "Cyberpunk 2077" lebt von solchen Geschichten, die Euch mitreißen. Und sobald Ihr Euch mit V identifiziert, seid Ihr drin.

Vor Euren Augen bringt ein Sohn seinen Vater um - Ihr könnt nichts tun, weil Ihr auf der anderen Seite einer Glasscheibe versteckt steht und ohnehin besser nicht entdeckt werden solltet. Ihr verliert einen Freund. Ihr genießt Sex. Ihr habt Mitgefühl mit Robotern. Ihr fahrt geile Karren. Ihr werdet erfahren, welche schmerzhaften Probleme Cyberware verursachen kann. Ihr verliebt Euch. Ihr fühlt Euch unwohl. Ihr fühlt Euch gut. Und schlittert von einem in den nächsten Konflikt.

Was ist aktuell das Problem?

Der Release des Spiels wurde aus dem April mehrfach verschoben. Nun ist auch klar, warum: Während Besitzer der jüngst veröffentlichten neuen Konsolen und potenter PCs vom Fleck weg eines der visuell eindrucksvollsten und erzählerisch anspruchsvollsten Spiele aller Zeiten relativ problemlos genießen konnten, kämpfen Gamer auf PS4 und XBox One mit einer erschreckend hohen Zahl an Bugs, Grafikfehlern und Spielabstürzen. Also von der Art, wie sie nach Ankündigungen, man müsse das Spiel nochmal verschieben, um auch wirklich ein würdiges Erlebnis zu schaffen, eigentlich nicht mehr vorkommen sollten.

Erste Patches sorgten für mehr Stabilität, bauten aber teils neue Fehler ein, weswegen die Entwickler von CD Projekt Red Spielern die Möglichkeit gaben, auch digitale Versionen zurückzugeben. Die Krux: Auf der Playstation schafften das nur wenige, weil Sony der Praxis kurzfristig einen Riegel vorschob - und das Spiel wenig später ganz aus dem Store entfernte. Die größtmögliche Ohrfeige.

So knackscharf wie hier sieht das Spiel aktuell nur auf guten PCs und den neuen Konsolen aus. - © CD Projekt Red
So knackscharf wie hier sieht das Spiel aktuell nur auf guten PCs und den neuen Konsolen aus. | © CD Projekt Red

Nun bekommt jeder, der das digitale Spiel zurückgibt, sein Geld zurück. Immerhin: Weitere Patches haben die Entwickler für die kommenden Wochen angekündigt. Aber schlimmer hätte es für dieses Spiel und seine Macher kaum kommen können.

Denn auch eine Woche nach Erscheinen fallen Spieler plötzlich mitten aus der Spielwelt ins Nichts. Auf den Straßen Night Citys fährt man noch immer durch andere Autos hindurch, ohne jede Kollision. Und die hochaufgelösten Texturen von Häusern oder Gesichtern laden teilweise so langsam, dass man zunächst nur verquollenen Pixelbrei zu sehen bekommt. So sehen Spiele in der Regel Monate vor Release aus.

Zugegeben, all diese Fehler sind mit einigem Aufwand auszubessern. Doch das Spiel hat auch Schwächen im... nun ja.. spielerischen Bereich. Wir finden zum Beispiel allerlei Ramsch, den wir zu Geld machen können, oder ihn zu Crafting-Komponenten umwandeln. Allerdings ist die Welt so vollgepackt mit coolen Gegenständen, dass wir nach den meisten Kämpfen auf eine der bei Gegnern gefundenen Waffen umgestiegen sind. Sogar legendäre Waffen sind mit ein bisschen Glück ohne Weiteres in der Spielwelt zu finden. Warum also Craften?

Hinzu kommt ein schwammiges Trefferfeedback (vor allem, wenn wir selbst getroffen werden), eine bis unter die Controller-Abdeckung vollgepackte Steuerung (vor allem beim Hacken) und gelegentlich durch Nachlader verzögerte Gesichtsanimationen in Dialogen, wenn das gesprochene Wort die Lippenbewegungen längst abgehängt hat. Einige dieser Probleme werden die Entwickler nur mit ordentlich Zeitaufwand beseitigen können.

Ob wir eine Zeit erleben, in der sich Motorräder in Night City wie Motorräder steuern lassen, wagen wir dagegen zu bezweifeln. Das ist jedenfalls herrlicher Kokolores und erinnert an drittklassige Motorrad-Spiele. Auf der einen Seite besorgt sich CD Projekt Red die Porsche-Lizenz für den 911 Turbo von Johnny Silverhand, auf der anderen Seite fahren sich die Motorräder wie Bauklötze.

Night City kann wunderschön sein, ein Cyberpunk-Traum in Neonfarben - den leider aktuell nicht jeder zu sehen bekommt. - © CD Projekt Red
Night City kann wunderschön sein, ein Cyberpunk-Traum in Neonfarben - den leider aktuell nicht jeder zu sehen bekommt. | © CD Projekt Red

Und wo ist, bitte, die lebendige Stadt, die uns versprochen wurde? Selbst in den Vergnügungsvierteln ist in der Nacht nur spärlicher Fußverkehr. Von sonstigem Verkehr ganz zu schweigen. Night City fehlt es an Lebendigkeit, aber auch daran können die Entwickler noch schrauben. Ob die alten Konsolen jedoch jemals so belebte Straßen simulieren können, wie ein PC, das wagen wir schwer zu bezweifeln.

Fazit:

Für Spieler der PS4-Version ist "Cyberpunk" aktuell ein echtes Ärgernis. Vor allem, weil an jeder Ecke spürbar ist, wie gut dieses Spiel einmal sein wird, wenn es fertig ist. Die Detailverliebtheit, die Intensität der Erzählung, die Welt - all das sucht seinesgleichen. Man will, dass es funktioniert, damit man es einfach erleben kann - und dann stürzt es wieder einmal ab.

Vor allem, das berichten Tester, die es trotz aller Bugs bis ans Ende der Story geschafft haben, fordert das Spiel erzählerisch heraus. Wo es Spieler gewöhnt sind, mit Gut- oder Böse-Optionen zu entscheiden, liegt hier die Wahl nicht selten zwischen Pest und Cholera. Wenn wir uns entscheiden müssen, gibt es in Night City immer mindestens einen Verlierer. Das lässt die Quests nachhallen, stärker als in den meisten Rollenspielen. Und lässt die Mechaniken aus dem Genrestandard umso plumper erscheinen. So verschiebt man Grenzen.

Für Spieler der PS4-Version auf einer PS5 ist "Cyberpunk" auf jeden Fall erträglich, aber natürlich an keiner Stelle so grandios, wie wir es in den sieben Jahren der Vorfreude erwartet haben. Klar, die echte PS5-Version (kostenloses Upgrade) erscheint erst noch irgendwann im Jahr 2021, aber mit der hochgerechneten Variante (also eher PS4pro) können wir im Gegensatz zu den PS4-Kollegen ganz gut leben. Bis zum nächsten Absturz. Die halten sich jedoch vergleichsweise in Grenzen. Da der Wiederspielwert riesig ist, werden wir die echte PS5-Version auf jeden Fall nochmal zocken, dann mit einem anderen Lebenspfad.

Bis dahin gilt: Wer abstürzt, startet neu. Denn jetzt einfach aufzugeben, das Geld zurückzuverlangen, die Reise zu beenden - was für Söldner wären wir denn, dass wir uns davon kleinkriegen ließen? Wir sind, verdammt nochmal, angetreten, Night City zu erobern, koste es, was es wolle. Wir haben einen Job zu erledigen! Also hört auf mit Eurem "Mimimi" und lasst uns das Ding rocken. Wir sehen uns im Afterlife - bestellt uns schon mal einen "Jackie Welles"!

"Cyberpunk 2077" ist für PC, PS4, PS5, Xbox One und Xbox Series X erhältlich, ab 18 Jahren freigegeben und kostet rund 60 Euro.

Der Launch-Trailer zum Spiel: