Versorgung in NRW: Mehr als 40 Minuten bis zur nächsten Praxis für eine Abtreibung

Berlin/Düsseldorf. In der Debatte um neue Regeln für Schwangerschaftsabbrüche hat die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission nun ihre Empfehlungen vorgelegt. Sie plädiert für eine Liberalisierung des bisherigen Rechts. Ob die Ampel-Koalition das Abtreibungsrecht tatsächlich in der Form reformiert, lässt sie derzeit noch offen. Doch wie ist die Versorgungslage in Deutschland? Eine Studie zeigt Missstände in der Versorgung auf, auch in NRW. Lesen Sie auch unseren Kommentar: Ampel plant neues Abtreibungsgesetz: Der Paragraf 218 muss weg Eine Abtreibung ist in Deutschland nach Paragraf 218 des Strafgesetzbuches grundsätzlich strafbar. Straffrei bleiben Abbrüche, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind. Zudem muss die Schwangere eine gesetzlich vorgeschriebene Beratung in Anspruch nehmen und der Abbruch darf frühestens am vierten Tag nach Abschluss der Beratung erfolgen. Mehr als 100.000 Schwangerschaften werden jedes Jahr in Deutschland abgebrochen. Eine umfassende Studie zur Versorgungslage und zu den Gründen und Lebensumständen der Frauen gab es bislang aber nicht. Ein Forschungsverbund aus sechs Hochschulen ist diesen Fragen in den vergangenen dreieinhalb Jahren nachgegangen und hat nun erste Ergebnisse vorgestellt. Die Koordinatorin der Studie Elsa (Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer. Angebote der Beratung und Versorgung) ist die Soziologin Daphne Hahn von der Hochschule Fulda, die auch Mitglied der von der Ampel beauftragten Expertenkommission ist. Versorgungslage Die Studie zeigt, dass ungewollt schwangere Frauen im Osten und Norden Deutschlands einen besseren Zugang zu Stellen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, haben als in anderen Landesteilen. Vor allem im Süden und Westen liegen größere Gebiete, in denen die nächste Einrichtung für einen Eingriff nicht innerhalb von 40 Minuten Autofahrt erreichbar ist. &bdquo;In 85 von 400 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland leben Menschen außerhalb einer angemessenen Erreichbarkeit. Das betrifft etwa 4,5 Millionen Menschen“, erklärt Rona Torenz vom Forschungsverbundprojekt. 43 dieser Kreise liegen in Bayern und jeweils acht in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und NRW. In NRW sind es die Kreise Kleve, Olpe, Euskirchen, Borken, Siegen-Wittgenstein, Hochsauerlandkreis, Düren und Oberbergischer Kreis. Im Vergleich der Bundesländer sieht die Studie die beste Versorgungslage in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen. NRW, Niedersachsen, Brandenburg, das Saarland und Hessen liegen in der Mitte. In Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ist die Versorgungslage am schlechtesten. &bdquo;NRW liegt im Ländervergleich im hinteren Mittelfeld mit einer Versorgungsdichte von knapp 25.000 Frauen im reproduktiven Alter pro Meldestelle und einer Auslastung von durchschnittlich 150 Abbrüchen pro Meldestelle“, sagt Torenz. Nach Angaben der niederländischen Ärztin Gabie Raven, die Praxen für Abbrüche in Rotterdam und Roermond betreibt, führt die schlechte Versorgungslage in NRW und anderen Bundesländern dazu, dass immer mehr Frauen die Angebote im Nachbarland nutzen müssen. &bdquo;15 Prozent meiner Patientinnen in den Niederlanden kommen aus Deutschland. Die meisten, weil sie nicht rechtzeitig Hilfe finden. Andere, weil sie der verpflichtenden Beratung entgehen möchten.“ Im Nachbarland müssen Frauen den Eingriff jedoch selber bezahlen, auch dann, wenn der Abbruch aufgrund von Bedürftigkeit in Deutschland vom Land finanziert worden wäre. Um deutsche Frauen in ihrer Heimat zu versorgen, betreibt Raven seit 2022 auch in Dortmund eine Praxis, in der Abbrüche durchgeführt werden. Stigmatisierung und andere Barrieren Ärztin Gabie Raven, ihre Mitarbeiter und Patientinnen werden regelmäßig von militanten Abtreibungsgegnern bedrängt und bedroht. Übergriffe dieser Art kennt sie seit 30 Jahren. &bdquo;Seitdem ich diese Arbeit mache, werde ich angegriffen. Doch die militanten Abtreibungsgegner sind immer besser vernetzt und haben mehr Geld.“ Stigmatisierung wird auch in der Elsa-Studie untersucht. So berichtet jede vierte Frau von Vorwürfen durch Familie, Freunde oder medizinisches Personal. Fast die Hälfte der Betroffenen hat sich alleingelassen gefühlt. Auch 65 Prozent der Ärzte gaben an, dass sie bereits Stigmatisierung erlebt haben. Besonders betroffen sind Ärzte, die in der ambulanten Gesundheitsversorgung arbeiten, in Regionen mit geringerem Versorgungsgrad tätig sind und die viele Abbrüche durchführen. Aus der Studie geht auch hervor, welche Barrieren dazu führen, dass Ärzte keine Abbrüche durchführen. Am häufigsten genannt wird, dass die Einrichtung, in der sie tätig sind, keine Abbrüche anbietet, dass keine geeigneten Räume zur Verfügung stehen und dass die Durchführung als belastend erlebt wird. 43 Prozent der Ärzte können sich jedoch vorstellen, Abbrüche durchzuführen, wenn die Barrieren wegfallen. &bdquo;Das zeigt, dass ein großer politischer Handlungsspielraum zur Verbesserung regionaler Versorgungslagen besteht“, erklärt Rona Torenz vom Forschungsverbundprojekt. Als weiteren Grund für die Verschlechterung der Versorgungslage in Deutschland identifiziert die Studie die fehlende Thematisierung von Abbrüchen in der Ausbildung von Ärzten. So erlernen nicht alle Gynäkologen in ihrer Facharztweiterbildung die Durchführung, besonders selten den medikamentösen Abbruch. Die Befragung zeigt aber, dass Ärzte, die die Eingriffe in der Ausbildung lernen, diese später auch häufiger durchführen. Um die Versorgungslage zu verbessern fordert die große Mehrheit der befragten Ärzte das Erlernen des Abbruchs als Bestandteil der ärztlichen Weiterbildungsordnung und die Etablierung von Behandlungsstandards in der Gynäkologie. Und mehr als 75 Prozent befürworten die Entkriminalisierung. Gründe für Schwangerschaftsabbrüche Für die Elsa-Studie wurden nach Angaben von Koordinatorin Daphne Hahn mehr als 5.000 Frauen mit ungewollten und gewollten Schwangerschaften befragt. Drei Hauptgründe werden dabei von Frauen genannt, die sich für einen Abbruch entschieden haben. 47 Prozent nennen eine finanziell angespannte Situation, 42 Prozent eine schwierige Partnerschaft oder keinen Partner und 36 Prozent Arbeitslosigkeit oder die noch nicht abgeschlossene Ausbildung oder Studium. Die Entscheidung für oder gegen einen Abbruch ist laut der Studie eine komplexe Abwägung zwischen möglichen Belastungen, individuellen Lebensplänen und den eigenen Ressourcen. Eine Analyse aus 25 qualitativen Interviews mit ungewollt Schwangeren zwischen 17 und 41 Jahren macht dabei vier Typen aus. Bewahren: Frauen, häufig im mittleren Alter, die wichtige persönliche Lebensziele erreicht haben und diese Standards und Errungenschaften in Beruf und Familie erhalten möchten. Stabilisieren: Frauen, die sich durch die ungewollte Schwangerschaft in ihrer gesundheitlichen oder finanziellen Lage bedroht fühlen. Orientieren: Frauen, häufig im jüngeren Alter, die sich noch selbst finden und für sich klären, wie sie ihr Leben planen wollen. Für sie geht es darum, Wahlmöglichkeiten zu haben. Verwirklichen: Frauen, häufig im jüngeren Alter, die sehr genaue Vorstellungen vom Leben haben und Lebensziele konkret verfolgen, zu dem eine Schwangerschaft oder ein weiteres Kind nicht passt. Hintergrund der Studie Die Studie wird vom Bundesgesundheitsministerium gefördert und geht aus einer Initiative aus dem Jahr 2019 hervor. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wollte die seelischen Folgen eines Abbruchs untersuchen lassen. Die Elsa-Studie zeigt: Ob eine ungewollte Schwangerschaft ausgetragen oder abgebrochen wird, hat längerfristig keinen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden der betroffenen Frau. Dieser Befund deckt sich mit internationalen Forschungsergebnissen. So zeigt eine Studie aus den USA, dass Abbrüche nicht zu dem sogenannten Post-Abortion-Syndrom führen. Mit dem Begriff wird unterstellt, dass Frauen nach einem Abbruch psychisch erkranken. Mehr als 95 Prozent der Frauen bereuen den Eingriff auch Jahre später nicht.

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