Chef der NRW-Arbeitsagentur zum Bürgergeld: „Gibt keine Ungerechtigkeit“

Herr Schüßler, seit Monaten taucht öffentlich immer wieder diese Frage auf: Lohnt es sich seit Einführung des Bürgergelds für einige Menschen überhaupt noch, arbeiten zu gehen? Roland Schüßler: Natürlich. Der Anreiz, arbeiten zu gehen, hat sich seitdem überhaupt nicht verändert. Das Bürgergeld wurde zwar zum 1. Januar dieses Jahres um zwölf Prozent erhöht; davor aber nur um 0,7 Prozent, während der Mindestlohn aber um 25 Prozent gestiegen ist. Dieser Lohnabstand zwischen Bürgergeld und Mindestlohn ist in den vergangenen zwei Jahren also gar nicht kleiner geworden. Ist der Lohnabstand zwischen arbeitenden Menschen und Empfängern von Bürgergeld denn ausreichend? Darüber kann man diskutieren. Gesprochen wird hingegen aber vor allem über die Höhe des Bürgergelds. Und? Es entsteht mitunter öffentlich der Eindruck, die Höhe des Bürgergelds werde politisch willkürlich festgelegt. Das ist falsch. Es steht im Gesetz, dass Menschen in einer Notlage ein Existenzminimum erhalten sollen. Wie setzt sich die Summe von inzwischen 563 Euro pro Monat denn konkret zusammen? Man schaut sich den beispielhaften Warenkorb mit Lebensmitteln an, der für die Preisentwicklung eine Rolle spielt – und zwar rückwirkend. Er richtet sich also danach, wie hoch die Preise zuletzt waren. Der Gesetzgeber leitet daraus dann die Höhe des Bürgergelds ab. Bürgergeld-Empfänger erhalten noch zusätzliche Hilfen. Ihnen werden zum Beispiel Kosten für die Wohnung und Heizung abgenommen. Diese Familien kommen dadurch unterm Strich auf hohe Hilfs-Beträge, auf die arbeitende Menschen mitunter nicht kommen, oder? Auch das stimmt so nicht. Ein gern zitiertes Beispiel lautet ja: Zwei Familien mit je zwei Kindern leben in einem Ort in gleich großen Wohnungen. In Familie A geht der Mann oder die Frau arbeiten und verdient 2.000 Euro. Bei Familie B arbeiten Mann und Frau nicht – und sie kommen durch das Bürgergeld auf 2.500 Euro. Dann heißt es oft: Wie kann das sein? In meinen Augen gibt es diese Fälle in der Realität gar nicht. Wer arbeiten geht und mit einem Gehalt von 2.000 Euro nicht auskommt, kann genauso zum Jobcenter gehen und ergänzende Leistungen beantragen – und kommt dann aufgrund der Freibeträge zum Arbeitslohn auch auf mehr als die 2.500 Euro. Und hinzu kommt, dass Familie A noch in die Rente einzahlt – also auch langfristig besser dasteht. Das System ist so ausgelegt, dass sich Arbeit am Ende immer mehr lohnt und dass es die oft deklarierte Ungerechtigkeit nicht geben kann. Sicher? Noch mal: Wer Anspruch auf Bürgergeld hat und arbeiten geht – die Rede ist von Aufstockern – kann genauso zum Jobcenter gehen und ergänzend Bürgergeld beantragen. In OWL haben das zuletzt knapp 20.000 Menschen gemacht. Knapp 2.000 von ihnen gehen sogar einer Arbeit in Vollzeit nach – und müssen trotzdem aufstocken. NRW-weit gab es zuletzt rund 220.000 Erwerbstätige, die ergänzend Bürgergeld bezogen. Was mir bei der Diskussion oft fehlt: Das Bürgergeld soll ja nur eine vorübergehende Lösung sein. Und es ist doch nicht so, dass man als Bürgergeld-Empfänger in Saus und Braus leben kann. Die Mehrzahl der Menschen will aus meiner Sicht ein selbstbestimmtes Leben führen. Das hat auch etwas mit Stolz und Würde zu tun. Bürgergeld-Empfänger müssen jeden Kontoauszug vorzeigen und jede Veränderung mitteilen. Wie viele Bürgergeld-Empfänger gibt es in NRW und in OWL und wie lange erhalten sie die Leistungen? In NRW gab es nach aktuellsten Zahlen von Juni 2023 rund 1,12 Millionen Bürgergeld-Empfänger. In OWL waren es rund 100.000. Von diesen 100.000 waren rund 6.900 Menschen weniger als drei Monate gemeldet. Sorgen müssen wir uns machen um 44.000 Menschen in OWL, die schon vier Jahre und länger im System sind. Warum erhalten diese Menschen so lange Bürgergeld? Könnten sie nicht früher einer Arbeit nachgehen? Für Fachkräfte gibt es viele gute Arbeitsangebote. Diese Menschen sind aber vorwiegend nicht ausreichend qualifiziert. Wenn wir hier nicht in Weiterbildung investieren, haben viele kaum eine Chance, wieder dauerhaft Arbeit zu finden. Dieselbe Herausforderung haben wir auch auf NRW- und Bundesebene. Die Rede ist oft von Verweigerern, also Bürgergeld-Empfängern, die sich zum Beispiel nicht auf Stellen bewerben wollen. Wie hoch ist deren Anzahl in NRW? Wir haben in den vergangenen acht Monaten 33.000 Sanktionen ausgesprochen. Davon waren 85 Prozent Meldeversäumnisse. Das heißt: In diesen Fällen sind die Menschen nicht zum Termin gekommen. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass all diese Menschen Arbeit verweigern. Das trifft in ganz NRW auf Bürgergeld-Empfänger maximal im kleinen vierstelligen Bereich zu. Ist es richtig, Menschen, die sich mehrfach verweigern, zu sanktionieren? Ja, der kleine Anteil, der nicht mitspielt, muss sanktioniert werden. Das haben wir immer gesagt. Wer nicht mitmacht, soll dann weniger Geld zur Verfügung haben. Wir reduzieren dann den Regelsatz, aber wir werfen die Menschen nicht aus ihrer Wohnung. Halten Sie die aktuelle Bürgergeld-Debatte für angemessen? Ich halte es für wichtig, dass die Spanne zwischen Leistungsbeziehern und Lohnempfängern groß genug ist. Da sind aber auch die Tarifvertragsparteien und die Mindestlohnkommission in der Pflicht. Falsch ist die Annahme, dass durch das Bürgergeld immer mehr Menschen ihre Arbeit ruhen lassen, um zu Leistungsempfängern zu werden. Unsere Zahlen zeigen, dass es im Niedriglohnsektor keine Kündigungswellen gibt, weil diese Menschen etwa ins Bürgergeld-System wechseln würden. Das ist nicht der Fall.

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