NRW-Innenminister: „Lügde ist der Inbegriff für Veränderungen innerhalb der Polizei“

Herr Reul, Ihr Verhältnis zur lippischen Polizei war nach dem Missbrauchsfall Lügde ja zuletzt eher angespannt ... Herbert Reul: Das stimmt, es war angespannt, weil es für die lippische Polizei eine riesige Belastung war und ich da eingreifen musste. Und weil dabei das Gefühl entstanden war: Der Minister steht nicht mehr hinter uns – das ist ja das Schlimmste, was passieren kann, auch für mich. Die Versammlung hier bei der Kreispolizeibehörde war eine der schwersten meines Lebens, weil ich die Fehler rigoros benennen musste. Und alles wegen des Falls in Lügde? Es war das erste Mal, dass die Polizei mit einem Thema konfrontiert wurde, das sie vorher nicht in dieser Massivität auf dem Schirm hatte – ich persönlich auch nicht. Die Polizisten fühlten sich verfolgt und nicht ernstgenommen, nur weil ich gesagt habe, dass etwas falsch gelaufen ist. Seitdem hat sich aber viel getan. Lügde ist für mich jetzt der Inbegriff für Veränderungen innerhalb der Polizei, nicht nur beim Schwerpunktthema Kindesmissbrauch. Gerade im Kampf gegen Kindesmissbrauch hat sich danach einiges verändert. Absolut. Die ganze Polizei hat sich total verändert: Wir haben in Nordrhein-Westfalen jetzt viermal so viel Personal, im Kampf gegen Kindermissbrauch sogar das fünffache. 30 Millionen Euro haben wir in den Einsatz von Technik investiert, bundesweit sind wir führend. Wir kommen gar nicht mehr nach, so viel decken wir auf; wir fahnden mit Hochdruck und sind Tätern auf der Spur. Und trotzdem sind Fehler passiert. Das ist das Zweite, was sich innerhalb der Polizei verändert hat: Wir gehen heute anders mit Fehlern um. Zuzugeben, dass etwas schiefläuft, und einzusehen, dass man aus Fehlern lernen kann, ohne dass die Welt zusammenbricht, das war unser Hauptproblem. Jetzt haben wir eine neue Führungsstrategie. Das hat alles hier begonnen, das ist die Wahrheit. Insofern sage ich allen, die da beteiligt waren oder jetzt noch beteiligt sind: Eigentlich können alle stolz sein, hier einen wichtigen Anstoß gegeben zu haben. Das hat die Polizei verändert. Sie haben damals den oft zitierten Satz gesagt: &bdquo;Meine Oma hätte gemerkt, dass da etwas nicht stimmt.“ Das hat die Polizei in Lippe ziemlich verletzt. Würden Sie den heute noch genauso sagen? Dieser Satz ist damals aus mir rausgebrochen. Sie müssen sich folgende Situation denken: Ich bekomme die Fotos vom Campingplatz, und man sieht doch sofort: da stimmt etwas nicht. Genau das habe ich damit gemeint. So haben es aber alle empfunden. Ich habe überhaupt keine Sekunde darüber nachgedacht, dass sich jemand hätte beleidigt fühlen können. Also habe ich es denen erklärt, und nach einigen heftigen Debatten war alles wieder gut. Wo müssen Sie beim Kampf gegen Kindesmissbrauch noch weiter ansetzen? Recht und Gesetze sind ein Riesenthema. Eine Ermittlerin hat mir neulich gesagt, sie hätte einen Typen im Visier, der sich an zehn Kindern vergangen habe. Sie kennt seine IP-Adresse, muss aber monatelang rumdoktern, weil sie nach dem Gesetz nicht an seine Telefonnummer und Namen kommt. Da fahren sie nach Hause und sind richtig beunruhigt. Aber ich kann das nicht ändern, weil das ein Gesetz auf Bundesebene ist. In Sachen Datenschutz sind wir viel zu verklemmt, da müssten wir zumindest einen Millimeter von wegrücken. Dass wir Straftäter wegen fehlender Daten nicht erwischen, kann ich nicht akzeptieren. Es gibt einen Fall aus Lippe, der das Vertrauen in die Polizei ganz schön erschüttert hat: die Verfolgungsfahrt in Bad Salzuflen. 34 Polizeischüsse sind in der Sackgasse gefallen, der 19-Jährige, der ohne Führerschein unterwegs war, ist seitdem querschnittsgelähmt. Was hat der Fall mit Ihnen gemacht? Das, was da passiert ist, war tragisch. Die Ermittlungen sind nicht abgeschlossen. Aber: Wenn 34 Mal geschossen wird, fragt man sich schon, warum musste das sein? Und dann gibt es wenig später einen Fall wie in Essen, wo der Polizist ums Auto läuft und ein Mann mehrfach über ihn drüber fährt. Ich hab den Mann besucht, kein Knochen war mehr ganz. Was ist jetzt richtig? Dass die Polizei geschossen hat? Oder dass der Polizist überfahren wurde? Wir werden die Ermittlungen abwarten müssen. Jeden, der nicht dabei war und voreilige Schlüsse zieht, nehme ich nicht ernst. Schwer macht die Ermittlungen vor allem, dass keine Bodycams eingeschaltet waren. Seit vergangem Jahr ist in NRW nur das Tragen Pflicht. Reicht das aus? Das Problem ist, wenn ich eine Einschaltpflicht einführen will, muss ich das Polizeigesetz verändern. Das ist nicht von heute auf morgen geschehen. Aber dann müsste jedem klar sein, dass die Bodycam nicht mehr Mittel zur Abschreckung, zur Deeskalation, sondern dann eine Beweissicherungsmaßnahme wird. Und ob ich das wirklich will, weiß ich nicht. Wir haben aber auch selten Fälle, wo die Kameras nicht an sind. Wie kann man nach solchen Fällen das Vertrauen in die Polizei wieder herstellen? Das Vertrauen in die Polizei ist mein geringstes Problem, das ist riesengroß. Ärzte und Polizisten sind in der Berufsanerkennung mit 81 Prozent die besten, da sind wir top. Schwer ist einfach, dass sich die Ermittlungen so lange hinziehen. Auch wenn ich verstehe, dass das gründlich gemacht werden muss. Es dauert einfach zu lang, weil man in der Sache keine Konsequenzen ziehen kann. Und die Betroffenen hängen auch ewig in der Luft. Selbst wenn am Ende rauskommt, dass die Polizisten nichts falsch gemacht haben, sind sie trotzdem sehr stark belastet. Für Aufsehen sorgte auch der Fall eines konvertierten Teenagers, der Chemikalien für den Bombenbau aus einer Schule in Detmold geklaut haben soll. Was geht Ihnen bei so einem Fall durch den Kopf? Der Fall wirft viele Fragen auf. Es ist nicht das erste Mal, dass sich ein Jugendlicher in Nordrhein-Westfalen in einem solchen Feld tummelt. Hier stellt sich für uns die Frage, warum Jugendliche für die Abwerbungsversuche von Islamisten empfänglich sind und so weit gehen, Bomben bauen zu wollen. Vor ein paar Jahren hätte ich gesagt, dass es so etwas nicht gibt. Kann man bei dem Detmolder Fall von einem verhinderten islamistischen Anschlag sprechen? (zögert) Es spricht vieles dafür – aber noch mit Vorsicht. Die Festnahme reiht sich ein in eine Reihe von aufgedeckten Anschlagsplänen in NRW. Was passiert in der dschihadistischen Szene? Da bewegt sich viel. Die Szene rüstet verbal wieder massiv auf. Wir haben alle gedacht, es sei ruhiger geworden. Das war falsch. Seit vielen Monaten stellen wir eine hochgefährliche Situation fest. Natürlich kann ich nicht vorhersagen, dass in naher Zukunft etwas passiert. Aber es gibt genug Gründe, diese Sorge ernstzunehmen. Hier laufen viele Gefährder rum, denen man unterstellen kann, dass sie zuschlagen können. Was ist schiefgelaufen, dass die Situation so ist, wie sie ist? Da müssen Sie in den Nahen Osten blicken. Es gibt einen Anlass: die Hamas. Den darf man nicht unterschätzen. Die Angriffe auf Israel haben viele getriggert, nach dem Motto: Jetzt können wir wieder aktiv werden. Wir stellen zudem seit längerer Zeit fest, dass der Islamische Staat wieder mehr auf Aktionen in Europa setzt als im örtlichen Verbreitungsgebiet. Das sind dann nicht unbedingt Aktionen von Terrorzellen, sondern von Einzeltätern. Das macht es für uns extrem schwer. Welchen Einfluss hat der Nahost-Konflikt generell auf die islamistische Szene? Einen massiven. Er macht den Anhängern Mut, bietet ihnen Anlass und Gründe. Ist die Terrorgefahr in NRW so hoch wie noch nie? Hoch war sie immer. Wir haben zuletzt nur mehr entdeckt als zuvor. Auch die Gefahr von rechts ist nicht zu unterschätzen. Aktuell gehen Tausende deswegen auf die Straße. Wie blicken Sie auf die Demos? Ich freue mich, dass die Mitte der Gesellschaft die Behauptung der AfD widerlegt, die Partei spreche für die schweigende Mehrheit. Die Proteste sind aber auch eine Botschaft an die Politik. Wir müssen das Vertrauen in den Staat wiederherstellen, sonst kann das Demogeschehen ins Gegenteil umschlagen – nämlich dann, wenn die Menschen merken, dass immer noch nichts passiert. Ich glaube allerdings auch nicht, dass wir mit den Demonstrationen das Problem lösen. Sondern? Wir müssen das Vertrauen in Politik, den Staat und den Journalismus wieder herstellen. Das geht nicht durch Prospekte oder Broschüren. Da müssen wir selbst anpacken. Das fängt schon damit an, Probleme beim Namen zu nennen. Zum Beispiel beim Thema Migration. Das kriegt die Politik aktuell aber nur selten hin. Besonders die AfD steht in der Debatte im Fokus. Gibt es Überschneidungen zwischen Partei und Rechtsextremen in NRW? Die Partei in NRW ist zwar lange nicht so schlimm wie in anderen Bundesländern. In Debatten im Landtag merke ich jedoch, dass manche Abgeordnete über die Jahre ihre Sprache massiv verschärft haben. Das beunruhigt mich. Ich halte generell ein Verbot der AfD aber für falsch. Das bringt nichts. Wir müssen die AfD vielmehr in den Köpfen der Leute bekämpfen.

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