Nordrhein-Westfalen – das Land der ungleichen Chancen

Düsseldorf. Angesichts der Armut von Minderjährigen in Deutschland hat Finanzminister Christian Lindner (FDP) eine Unterscheidung zwischen deutschen und ausländischen Kindern gemacht. Kritiker im von Kinderarmut besonders gebeutelten Nordrhein-Westfalen finden das falsch und gefährlich. "Das Ziel der Kindergrundsicherung ist, die Kinder aus der Armut herauszuholen", erklärt Dennis Maelzer, Sprecher der SPD-Landtagsfraktion für Kinder, Jugend und Familie. "Und da muss es zunächst völlig egal sein, ob das Kind vor einem Krieg geflüchtet ist oder in Deutschland geboren wurde." Im monatelangen Konflikt über die Kindergrundsicherung hat Lindner den Eindruck erweckt, als werde die Armut von Kindern in Deutschland vor allem durch ausländische Familien hervorgerufen. Eigentlich sei die Kinderarmut klar zurückgegangen, sagte er beim Tag der offenen Tür seines Ministeriums und ergänzte: "bei den ursprünglich deutschen Familien". Insgesamt aber sei die Kinderarmut vergleichsweise hoch – "wegen der Familien, die seit 2015 neu nach Deutschland eingewandert sind, als Geflüchtete oder aus anderen Gründen". Der FDP-Chef argumentierte aus einer Besorgnis heraus – Stichwort Chancengerechtigkeit. "Hilft man diesen Kindern nun am besten dadurch, dass man den Eltern mehr Geld aufs Konto überweist?", fragte Lindner, wohl eher rhetorisch. "Oder ist es nicht vielleicht mindestens diskussionswürdig, in die Sprachförderung, Integration, Beschäftigungsfähigkeit der Eltern zu investieren und die Kitas und Schulen für die Kinder so auszustatten, dass sie vielleicht das aufholen können, was die Eltern nicht leisten können?" "Einige Personen sind aus der Statistik gefallen" Die Zahlen geben Lindner zunächst einmal recht. "Es stimmt, dass der Anteil der Kinder mit einem deutschen Pass im Leistungsbezug gesunken ist", sagt der SPD-Fachpolitiker Maelzer. "Das ist auch eine Folge des Ukraine-Krieges, vor dem viele Mütter mit ihren Kindern zu uns geflüchtet sind – die meisten Männer dürfen die Ukraine aufgrund des Krieges nicht verlassen." Der Flüchtlingsrat NRW zählt noch weitere Gründe auf. Viele deutsche Kinder gelten laut Geschäftsführerin Birgit Naujoks allein deshalb nicht mehr als von Armut bedroht, weil durch die Zuwanderung das mittlere Einkommen insgesamt, an dem eine Armutsgefährdung gemessen wird, gesunken ist. "Einige Personen sind also aus der Statistik gefallen." Überdies gestalte sich die rechtliche Situation von Schutzsuchenden so, dass sie zunächst keine Beschäftigung aufnehmen dürften und damit auf Sozialleistungen angewiesen seien, sagt Naujoks, "manchmal über Jahre". In Nordrhein-Westfalen zeigt sich ein steiles Gefälle bei der Armutsgefährdung junger Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte (siehe Grafik). Obwohl Minderjährige mit Migrationshintergrund hier etwas weniger als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren ausmachen, gehen aus ihnen fast dreiviertel der armutsgefährdeten Kinder hervor. "Während 25,9 Prozent aller Kinder in NRW armutsgefährdet sind, sind es unter denen ohne Einwanderungsgeschichte nur 13 Prozent, unter denen mit Einwanderungsgeschichte 41,8 Prozent", erklärt Lutz Leisering, Professor für Sozialpolitik an der Universität Bielefeld. "Das Armutsgefährdungsrisiko ist also unter Kindern mit Einwanderungsgeschichte dreimal so hoch wie unter Kindern ohne." In einem Punkt liege Lindner richtig Mit Blick auf die Biografien von geflüchteten Menschen verweist die Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Naujoks auf den Arbeitsmarktzugang. Aus Studien gehe hervor, dass sie häufig unter dem Durchschnittseinkommen beschäftigt werden, schon allein wegen ihres eher niedrigen Alters. Kinderarmut gilt in Deutschland längst als ein chronisches Problem. "Durch die höhere Zuwanderung wird es noch deutlicher sichtbar", sagt Naujoks. Recht habe Lindner damit, dass die Politik endlich wirksam reagieren sollte. "Dazu bedarf es einer Kombination von Stärkung der Infrastruktur, individuellen Unterstützungsmaßnahmen und höheren Sozialleistungen – hier hat Herr Lindner offenbar eine andere Auffassung."

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