
Steinhagen. Dieses Wirtschaftsverbrechen war einer der größten Finanzskandale der Bundesrepublik. Es ging um Milliarden und Manipulationen, um vorgetäuschte Aufträge, persönliche Dramen und Behörden, die nicht ermitteln wollten. Und es gab einen Hauptangeklagten, der plötzlich verschwunden war. 1994 wurde der aufsehenerregende Fall des Steinhagener Sportbodenherstellers Balsam endgültig publik - fast 30 Jahre später hat der WDR den Wirtschaftsskandal nun als aufwändige TV-Dokumentation zusammengefasst. Unter dem Titel "Der Milliarden-Coup - Deutschlands schlimmstes Wirtschaftsverbrechen" ist der Zweiteiler am Donnerstag, 10. August, ab 20.15 Uhr auf "arte" zu sehen oder ab sofort in der arte-Mediathek.

Die Idee zum Film entstand im Jahr 2021. Im Zuge von Recherchen rund um den Fall Wirecard tauchte plötzlich die Frage auf: Warum gibt es eigentlich keine Dokumentation über den Finanzskandal bei Balsam? Simone Schillinger, Autorin und Regisseurin für TV- und Onlinedokumentationen sowie Dozentin für Interviewführung, erhielt eine entsprechende Anfrage. Sie fand den Fall spannend und sagte zu. Anfang des Jahres 2022 begann sie, ein Skript zu schreiben. Und zu recherchieren. "Der Ansatz bei diesem Film war es, möglichst viele verschiedene Perspektiven einzunehmen", erklärt die 47-Jährige. "Da waren die ganzen Geprellten wie Mitarbeitende, Handwerker oder die Gemeinde Steinhagen, aber es gab auch Anwälte und Juristen oder Journalisten, die sich erinnerten und die Geschichte aus ihrer Sicht erzählen." Ein riesiges Spinnenetz von Betroffenen.
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Tatsächlich habe sie noch mit viel mehr Menschen gesprochen als nur mit denen, die in dem Film zu Wort kommen. "Aber manche sollten nichts sagen, weil sie in einem Beamtenverhältnis stehen. Andere wollten öffentlich nichts mehr sagen, weil sie mit dem Thema Balsam abgeschlossen hatten", fügt Simone Schillinger an. Der erste Teil der Doku, die insgesamt zweimal 45 Minuten umfasst, heißt "Das Verbrechen" und startet mit einer Szene aus Herbst 1998. Mit einem Abschiedsbrief hatte der Angeklagte Klaus Schlienkamp in einem der größten Wirtschaftsstrafprozesse der Republik seinen Selbstmord angekündigt und war plötzlich verschwunden.
Dabei stand am Anfang eine Erfolgsgeschichte: Die deutsche Balsam AG war in den frühen 1990er Jahren Weltmarktführer im Bereich Sportbodenbau. Rund 1.500 Menschen arbeiteten für Balsam, örtliche Handwerksbetriebe und Sportvereine profitierten vom westfälischen Unternehmen. 1992 war Balsam sogar noch Ausstatter der Olympischen Sommerspiele in Barcelona. Dann brachte eine anonyme Anzeige das "Wirtschaftsverbrechen mit Schere und Kleber" schließlich ans Licht: Angeblich sollte die Balsam AG in Milliardenhöhe betrogen haben. Doch der zuständige Staatsanwalt legte den Fall erstmal zu den Akten.
Bielefelder Ermittler legt sich mit der Staatsanwaltschaft an
Für den ermittelnden Kriminalhauptkommissar Karl-Heinz Wallmeier war das nicht nachvollziehbar. Der Kripomann aus dem westfälischen Halle erinnert sich in dieser Dokumentation an den Fall, der zum spektakulärsten seiner Karriere werden sollt, ging anonymen Hinweisen nach, legte sich mit der Staatsanwaltschaft an und ermittelte schließlich auf eigene Faust – unter anderem in Frankreich, wo er auf entscheidende Hinweise stieß. Nach monatelangen Ermittlungen stand fest: Der Finanzchef der Balsam AG hatte mit einfachen Bastelmethoden 1,5 Milliarden D-Mark ergaunert. In Steinhagen, dem Hauptsitz des einstigen Vorzeigeunternehmens, verloren Hunderte Menschen ihren Arbeitsplatz, die Gemeinde sah sich mit Steuerrückzahlungen in Millionenhöhe konfrontiert und Handwerksbetriebe aus Steinhagen und Umgebung kämpften um das finanzielle Überleben.

Für den Film ist das Team um Simone Schilinger zweimal nachts zum Anleger "Alte Liebe" nach Cuxhaven gefahren; an jenen Ort, an dem sich die Spur von Schlienkamp einst verlor. Mit Hilfe einer Ausstatterin und Kostümbildnerin wurden Möbel und Mode aus den 1980er und 1990er Jahren in Köln und Düsseldorf gesucht, um Büros und Schauspieler für nachgestellte Szenen möglichst wirklichkeitsgetreu auszustatten. Gedreht wurde an Originalschauplätzen in Deutschland, Frankreich und Südostasien. Außerdem besuchte die Crew den damaligen Bürgermeister der Gemeinde Steinhagen, Schlienkamps Anwalt, Handwerker, ehemalige Angestellte sowie Redakteurinnen und Redakteure. Zweimal drehte Simone Schillinger im Sommer 2022 auch in der Redaktion des "Haller Kreisblatts", von wo aus der Fall Balsam zusammen mit den Kollegen der "Neuen Westfälischen" über die Jahre hinweg journalistisch begleitet wurde. Alle tauchen in einzelnen Sequenzen immer wieder in der Doku auf. Auch im zweiten Teil.

Unter der Headline "Die Jagd" geht es hier um den Mammutprozess, der 1996 vor dem Landgericht Bielefeld gestartet war, und von dem noch Originalaufnahmen existieren. Um das System, mit dem der Finanzchef der Balsam AG betrogen hat. Betroffene erzählen, wie sie sich damals darum gesorgt haben, wirtschaftlich zu überleben. Und natürlich wird die Jagd um den halben Erdball auf den geständigen Klaus Schlienkamp gezeigt, der sich seiner Strafe entziehen wollte und dazu Nachrichten verfasste, die die Beteiligten von damals allesamt noch zitieren können: "The body has been eaten by the fish."
Frappierende Parallelen zu Wirecard
Nur eine alte Geschichte? Alles lange her? Mitnichten. Die Parallelen zum Fall Wirecard sind frappierend. Hier wurde 2020 gemeldet, dass 1,9 Milliarden Euro fehlten. Auch hier tauchte einer der Verantwortlichen, Jan Marsalak, ab. Und auch hier löste die Insolvenz bundesweit einen politischen Skandal aus. Im Fall des Wirtschaftsskandals von Balsam jedoch können sich vor allem die Menschen in Ostwestfalen noch gut erinnern - weil sie die handelnden Personen kannten. Weil die Firma ihr Untergang war. Weil sie die Geschichte als Jurist oder als Journalist begleitet oder einfach als Zuschauer beobachtet haben. Nun noch einmal bei "arte" - allerdings vor dem Bildschirm.
Für ihre journakistischen Enthüllungen im Balsam-Fall erhielten die NW-Redakteure Karl-Heinz Steinkühler und Hans-Joachim Block 1994 übrigens den renommierten "Wächterpreis der deutschen Tagespresse".
Auch bei "Ostwestfälle", dem True-Crime-Podcast der „Neuen Westfälischen", dreht sich eine Folge um die Geschehnisse des Wirtschaftsskandals. In "Ein Milliardenbetrug - der Fall Balsam" berichtet HK-Redaktionsleiterin Nicole Donath von einer spektakulären Festnahme: