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Warum der Balsam-Skandal für den Ermittler der Polizei Bielefeld zum Drama wurde

Es war einer der größten Finanzskandale der Bundesrepublik. In der neuen Podcast-Folge geht es um den Fall Balsam und darum, wie Kommissar Karl-Heinz Wallmeier den Haupttäter Klaus Schlienkamp schnappte.

Im Zentrum des Skandals: Die Balsam-Zentrale in Steinhagen im Jahr 1994. | © Nicole Donath

Nicole Donath
27.04.2023 | 28.02.2024, 15:27

Halle/Steinhagen/Bielefeld. Es ist die Nacht des 28. März 2000, irgendwas zwischen drei und vier Uhr. Seit zehn Tagen hält sich der Kommissariatsleiter für Wirtschaftsstraftaten der Bielefelder Polizei nun schon in der philippinischen Millionenmetropole Cebu auf und sucht den flüchtigen Balsam-Finanzchef Klaus Schlienkamp.

In einem Fax aus der Karibik war eineinhalb Jahre zuvor dessen Tod gemeldet worden: „The whole body has been eaten by the fish." (Der Körper wurde vom Hai gefressen.) Alles Unfug und obendrein dilettantisch gemacht.

Der Fall ist nun Thema in einer neuen Episode von "OstwestFälle - dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen.

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Deshalb bleibt ihm sein Verfolger auch auf den Fersen und hat gerade nur noch ein Problem: In Cebu gibt es weder ein Einwohnermeldeamt noch haben die Straßen Namen. Und Wallmeier weiß nicht, wo genau Schlienkamp sich aufhält – er weiß nur, dass er hier ist. Aber dieses Mal, da ist sich der akribische Ermittler sicher, dieses Mal packt er ihn. Es gibt ein deutsches Restaurant, wo der Flüchtige offenbar häufiger zu Gast ist. Dort erhält er schließlich den entscheidenden Tipp.

Alle Fakten zum Fall Balsam im Überblick

  • In den 80ern zählt der Sportbodenhersteller Balsam aus Steinhagen zu den Weltmarktführern in der Branche.
  • Ein ehemaliger Mitarbeiter offenbart 1992 in einer anonymen Anzeige die illegalen Geschäftspraktiken.
  • Kommissar Karl-Heinz Wallmeier ermittelt auf eigene Faust, weil die Staatsanwaltschaft zunächst nicht aktiv wird.
  • Als die Presse im Juni 1994 enthüllt, dass die Balsam AG eigentlich seit Jahren im großen Stil betrügt, wird kurz darauf der Firmen-Vorstand verhaftet.
  • Im Jahr 1996 beginnt der Prozess gegen den Balsam-Vorstand und weitere mutmaßliche Helfer, als einziger Angeklagter legt der Finanzchef Klaus Schlienkamp ein Geständnis ab.
  • Der flüchtige Schlienkamp wird auf den Philippinen aufgespürt und zu acht Jahren Haft verurteilt.

Der Chefermittler: Karl-Heinz Wallmeier machte die Balsam-Affäre öffentlich. 25 Jahre danach erinnert sich der Kripomann. - © Sarah Jonek
Der Chefermittler: Karl-Heinz Wallmeier machte die Balsam-Affäre öffentlich. 25 Jahre danach erinnert sich der Kripomann. | © Sarah Jonek

Auf direktem Wege fahren der Haller Kripomann und zwei Beamte des Bundeskriminalamtes zusammen mit ihren philippinischen Kollegen zur angegebenen Adresse und klingeln. Nach einer kurzen Weile öffnet der Flüchtige die Tür. „Guten Tag, Herr Schlienkamp. Mein Name ist Wallmeier. Kennen Sie mich noch ..?" Natürlich kennt der Mann im Bademantel seinen Verfolger noch. Kreidebleich sackt Schlienkamp auf der Treppe zusammen. Er wird verhaftet und ein paar Tage später in die alte Heimat zurückgebracht. Doch ab jetzt wohnt er in der Justizvollzugsanstalt Brackwede. Der Mann, der mitten im Gerichtsprozess seinen Tod vortäuschte und verschwand, muss seine Gefängnisstrafe antreten.

Aus kleinsten Verhältnissen kommend hatte sich der gelernte Kaufmann zum Finanzchef der Balsam AG in Steinhagen hochgearbeitet und liebte den Luxus. Noble Reisen, teure Autos, schnelle Pferde. In guten Zeiten verdiente der Anhänger der Zeugen Jehovas mehr als drei Millionen Mark im Jahr. In Wirklichkeit hatte er – offenbar gemeinsam mit Firmenchef Friedel Balsam – Rechnungen und Aufträge gefälscht, um die Balsam AG vor dem längst fälligen Konkurs zu retten. Am Ende stand ein Milliardenschaden.

Balsam-Skandal im Gedächtnis: "Der Film läuft noch immer"

Karl-Heinz Wallmeier blättert manchmal noch in den Zeitungen und Unterlagen, zumeist aus dem Jahr 1994, als der Wirtschaftsskandal rund um den Steinhagener Sportbodenhersteller Balsam öffentlich wurde. Dort liest er die anonyme Anzeige, die ehemalige Balsam-Mitarbeiter im November 1992 in einem Schließfach am Bielefelder Bahnhof für die Staatsanwaltschaft hinterlegt hatten.

Bereits seit April 2010 ist Wallmeier pensioniert – anschließend betrieb er in Halle noch eine private Wirtschaftsdetektei. Sein Gedächtnis gleicht aber heute noch einem wandelnden Kalender. Alle relevanten Daten im Fall Balsam hat er ohne ein Zögern parat, sogar die dazugehörigen Wochentage. Und das, obwohl es fast 30 Jahre her ist, dass der Milliardenbetrug öffentlich wurde. Nicht ein Detail davon hat Karl-Heinz Wallmeier vergessen. „Der Film läuft noch immer", sagt er.

1992 geht bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld eine anonyme Anzeige ein

Die Titelseite der anonymen Anzeige: Der Ordner mit den Hinweisen auf die betrügerischen Machenschaften der Balsam AG war in einem Schließfach am Bielefelder Hauptbahnhof hinterlegt. - © Nicole Donath
Die Titelseite der anonymen Anzeige: Der Ordner mit den Hinweisen auf die betrügerischen Machenschaften der Balsam AG war in einem Schließfach am Bielefelder Hauptbahnhof hinterlegt. | © Nicole Donath

Zurück zum Anfang: 14 Seiten umfasst der Text der anonymen Anzeige, die am 30. November 1992 bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld auf den Tisch kommt. Polizeibeamte hatten die Unterlagen aus einem Schließfach entnommen. Beigefügt ist ein Ordner mit Belegen. In den einleitenden Worten heißt es: „Wie bei Terrorbanden von links und rechts bildet der Vorstand der Balsam AG meines Erachtens eine kriminelle Vereinigung. (...). Alleine die Betrugs-, Luft-, Doppel- und Dreifachgeschäfte mit den an die Procedo verkauften Aufträgen erreichen (...) wahrscheinlich mehr als zwei Milliarden Mark. Auch die sonstigen Schäden durch Steuerhinterziehung und Kartellabsprachen gehen in die Millionen. Selbst vor körperlichen Angriffen ist man nicht mehr sicher (...)."

In dem Material finden sich Adressen von passenden Ansprechpartnern, detaillierte Beschreibungen, wo weiteres belastendes Material zu finden sei, sogar der Standort des wichtigsten Computers wird benannt. Oberstaatsanwalt Jost Schmiedeskamp bekommt die kriminellen Machenschaften des Steinhagener Sportbodenherstellers praktisch auf dem Silbertablett serviert – aber nach einer internen Besprechung von Staatsanwaltschaft und Finanzverwaltung im Dezember desselben Jahres stellt er fest: „Die Behauptungen sind unschlüssig und bieten keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer strafbaren Handlung."

„Diese Ignoranz hat meinen Widerspruch hervorgerufen", sagt Wallmeier bis heute. Auf eigene Faust ermittelt er weiter im Fall Balsam. Was hat es mit den Milliarden-Aufträgen auf sich? Ein knappes Jahr später ist er so weit, dass er weiß, wer hinter der anonymen Anzeige steckt. „Kurz darauf hatte ich zwei persönliche Gespräche mit dem Verfasser und habe mir die Vorwürfe persönlich erläutern lassen", erzählt Wallmeier. „Die Zusammenfassungen hatte ich wiederum an Schmiedeskamp weitergeleitet. Doch es geschah weiterhin – nichts."

Festnahmen 1994 nach einem Medienbericht

Wallmeier ermittelt sogar im Ausland. Anfang November 1993 steht er in Frankreich und stellt fest, dass Balsam Bauprojekt aufgeblasen und teilweise ganz erfunden hat. Sein Bericht wird von Schmiedeskamp zur Kenntnis genommen, doch wieder geschieht – nichts. Wallmeier ermittelt weiter.

Es dauert noch ganze sechs Monate, bis das ZDF-Magazin "Frontal" am Dienstag, 31. Mai 1994, von einem enormen Finanzskandal in der Sportbodenbranche berichtet, ohne den Namen Balsam zu nennen. Das sorgt in Ostwestfalen für hektische Aktivitäten bei den Zeitungen, die kurz darauf die Verbindung zu Balsam herstellen. Am darauf folgenden Montagmorgen, 6. Juni, kündigt Rechtsanwalt Dr. Holger Rostek ein Geständnis seines Mandanten Klaus Schlienkamp für 17 Uhr an.

Als es soweit ist, werden der Finanzchef sowie die übrigen drei Balsam-Vorstände Friedel Balsam, Dietmar Ortlieb und Horst Bert Schultes direkt festgenommen. Die Firmenzentrale wird versiegelt. Oberstaatsanwalt Heinrich Rempe übernimmt das Verfahren. Gegen Schmiedeskamp wird bald wegen des Verdachts der Strafvereitelung im Amt ermittelt.

Der flüchtige Klaus Schlienkamp wird von Wallmeier persönlich auf den Philippinen festgenommen. - © Symbolbild/Pixabay
Der flüchtige Klaus Schlienkamp wird von Wallmeier persönlich auf den Philippinen festgenommen. | © Symbolbild/Pixabay

Während des dreijährigen Prozesses dürfen die vier Angeklagten, die bald auf freien Fuß kommen, sogar neuen Tätigkeiten nachgehen. Nur dienstags und mittwochs müssen sie im Landgericht Bielefeld anwesend sein. Am 20. September 1999 werden Ortlieb und Schultes zu Geldstrafen verurteilt. Firmengründer Friedel Balsam erhält acht Jahre. Klaus Schlienkamp zehn – das Urteil wird in seiner Abwesenheit gefällt.

Um wieder an Geld zu kommen, hatte Schlienkamp die Kapitalanlagegesellschaft IM Consulting gegründet. Zur Geschäftsführerin wurde pro forma seine Ehefrau bestellt. Er war es jedoch, der 1,8 Millionen Mark sammelte, um mit dem Geld zu spekulieren. Schon im Oktober 1998 hatte er die Summe allerdings fast vollständig verzockt. Vier Wochen später fuhr mit seinem Rover 620 i nach Cuxhaven, stellte ihn an der Landungsbrücke ab – und war von da an verschwunden.

Für den Ermittler wird der Fall zu einem persönlichen Drama

Im NRW-Landtag gibt es derweil einen Untersuchungsausschuss, der sich mit der Rolle der Staatsanwaltschaft und des Justizministers Rolf Krumsiek befasst. Die Generalstaatsanwaltschaft Köln verfasst einen Bericht rund um den Fall, der sich längst zur Staatsaffäre ausgeweitet hat. Karl-Heinz Wallmeier indes erhält weder Lob noch eine Beförderung, vielmehr wird die Balsam-Affäre für ihn zum persönlichen Drama.

„Während der Ermittlungen erhielt ich Bombendrohungen und anonyme Anrufe, man werde meinen Sohn entführen und ihn umbringen", berichtet der Chefermittler. Auch Journalisten werden damals mit Einbrüchen und Drohungen unter Druck gesetzt. Sie sollen von weiteren Recherchen abgehalten werden. „Aber auch der Kleinkrieg zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei hat mich belastet. Jeden Tag gab es neue Gerüchte."

Was noch größere Schlagzeilen macht, ist allerdings eine Liaison Wallmeiers – ausgerechnet mit der geschiedenen Ehefrau des Betrügers Klaus Schlienkamp. Hat er sie in seinem Ehrgeiz benutzt, um an Informationen zu kommen? Als er sich von ihr abwendet, unternimmt sie einen Suizidversuch und schreibt mit ihrem Blut an die Wände des Badezimmers „Wallmeier Mörder". Die enttäuschte Frau überlebt. Heute räumt der Kripomann ein: „Ja, es stimmt, ich habe die Situation ausgenutzt. Aber entgegen anderer Darstellungen war ich nie richtig mit ihr zusammen."

Auch aus anderer Richtung erhält Wallmeier Druck. Ende 2010 gibt es mehrere Strafanzeigen von Privatpersonen gegen ihn. Der Vorwurf: Wallmeier soll ohne Genehmigung als Privatdetektiv gearbeitet und dabei auf Daten zurückgegriffen haben, die ihm während seiner Dienstzeit zur Kenntnis gelangt sind. Gegen den Hauptkommissar wird ein Disziplinarverfahren eingeleitet. „Aber da kam nichts bei raus", stellt Wallmeier heute fest, „ich habe keine Straftat begangen."

"In diesem Fall mache ich nichts mehr. Das ist Vergangenheit."

Als positive Erinnerung bleibt, dass er durch die Fahndung die Welt gesehen hat: „Ich war auf den Bahamas, in Venezuela, in den USA, auf den Philippinen und bin quer durch Europa gereist. Nur die legendäre Balsam-Yacht habe ich nie gefunden. Vielleicht gibt es die auch gar nicht."

In all der Zeit, nach all den Jahren sei sein größter Triumph übrigens nicht der Moment gewesen, als er am Ende des Ermittlungsmarathons Klaus Schlienkamp gefangen hat, sagt er. „Nein, das war der Anruf bei Staatsanwalt Rempe. Der war wegen der Uhrzeit noch ganz verschlafen und fragte mich: Habe ich das richtig verstanden? Sie haben ihn?" Gleich am Morgen berief dieser eine große Pressekonferenz ein.

Heute ist Karl-Heinz Wallmeier in zweiter Ehe verheiratet und sagt, dass er mit der Balsam-Geschichte abgeschlossen hat: „In diesem Fall mache ich nichts mehr. Das ist Vergangenheit." Die Aufdeckung des Skandals indes wird immer der Fall seines Lebens bleiben.

INFORMATION


Das war die Balsam-Masche

Um sich vor dem jahrelang drohenden Konkurs zu retten, ließen sich die Balsam-Manager geplante Auslandsprojekte über den Finanzanbieter Procedo von 45 Banken vorfinanzieren. Die Balsam AG reichte Rechnungen nach Wiesbaden weiter, wenige Tage später überwies Procedo den vollen Auftragswert abzüglich einer Provision nach Steinhagen. Nach 90 bis 120 Tagen, wenn der Kunde seine Rechnung beglichen hatte, zahlte Balsam das Geld zurück an Procedo. Viele Projekte jedoch waren komplett erfunden oder existierten nur in kleinerer Form. Das Geld, das sich Balsam erschlich, wurde in hoch riskante Devisentermingeschäfte gesteckt. Mit den Erträgen sollten die Finanzlöcher gestopft werden. Doch Schlienkamps Spekulationen funktionierten nicht.

In insgesamt 183 Fällen sollen die Manager, so die 852 Seiten starke Anklage, Banken um fast 1,8 Milliarden Mark geprellt haben. Dabei setzte der Konzern höchstens 300 Millionen Mark um.