Ukrainerinnen berichten in Bielefeld vom Leben und Sterben an der Front

Bielefeld. Lyudmyla Makyeyevas vorher noch sehr kämpferische Stimme gerät auf einmal ins Stocken. Die 33-jährige Studentin der Biomedizin erzählt gerade auf Englisch, wie eine sehr enge Freundin von ihr mitsamt ihrer ganzen Familie in der Nähe von Saporischschja ums Leben gekommen ist. "Die russische Rakete hätte auch mich treffen können", sagt sie nachdenklich, bevor sie mit ihrem Vortrag fortfährt. Die Stadt Saporischschja und das dortige Atomkraftwerk sind nach 17 Monaten russischen Angriffskriegs wohl fast allen Deutschen ein Begriff. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Frontregion im Südosten der Ukraine nicht mit neuen Schreckensmeldungen in den Nachrichten auftaucht. Selten jedoch werden die Geschichten der Menschen hinter den Bildern von zerbombten Häusern und Schulen erzählt. Die Universität Bielefeld gibt an diesem Vormittag drei Studentinnen aus Saporischschja im Rahmen ihres "Peace and Conflict Talk" die Gelegenheit dazu. Lyudmyla Makyeyeva, Olha Boiko und Kateryna Kapblun sind Teil einer 25-köpfigen Studiengruppe aus der Ukraine, die für acht Wochen in Bielefeld ist. Großmutter stirbt nach Verhör durch Russen Auch Kateryna Kapblun muss sich während ihres Beitrags über ihr von den Russen besetztes Heimatdorf Nesteryanka mehrmals sammeln. Die 23-Jährige zeigt Fotos vom zerbombten Haus ihres Freundes und der zerstörten Wohnung ihres Bruders. "Meine Großmutter wurde von Russen verhört und nach dem Verhör ist sie aufgrund des Stresses und mangelnder medizinischer Versorgung gestorben", sagt sie. Als die Russen herausgefunden hätten, dass Kapbluns Vater Soldat ist, hätten sie der Oma ärztliche Hilfe verweigert. Kapblun zeigt Fotos von Männern ohne Arme und Beine. "Viele Männer sind so verstümmelt, weil die russischen Besatzer sie als menschliche Schutzschilde verwenden", sagt sie. Rund 300.000 Menschen leben derzeit in der Saporischschja-Region in von Russland besetzten Gebieten, klärt Olena Tupakhina auf. Die Koordinatorin des Programms ist per Videocall aus Saporischschja zugeschaltet. Die Verbindung hält, was nicht immer so sei. Internet, Strom, Wasser und Gas seien nicht selbstverständlich, da die Russen die kritische Infrastruktur immer wieder gezielt angreifen würden. "Die Angst vor Bombardierung und Tod ist immer da", sagt Lyudmyla Makyeyeva. Medizinstudenten operieren nach kürzester Einarbeitung Die Biomedizinstudentin erzählt, dass Ärzte unter diesen extremen Bedingungen tagtäglich versuchten, die Kriegsverletzungen der Soldaten zu behandeln. "Bis zu 20 Stunden dauert eine Schicht und normale Leute bekommen trotzdem keine geplanten Operationen mehr", sagt Makyeyeva. Dabei operierten inzwischen selbst Medizinstudenten nach kürzester Einarbeitung selbstständig. Um dies zu illustrieren, zeigt sie sehr detaillierte Fotos von verletzten Soldaten. Soldaten, die unter anderem die Heimatstadt von Olha Boiko verteidigen. Orikhiv liegt ebenfalls an der Front. Erst vor vier Tagen seien dort elf Menschen während einer Essens- und Wasserausgabe in einem Hilfszentrum durch russische Bombardierung gestorben, berichtet Boiko und zeigt Fotos sowie einen Fernsehbericht. "Orikhiv ist nicht so bekannt wie Bachmut, aber es ist vergleichbar. Es gibt dort kein Haus ohne Schäden mehr", sagt die 27-jährige Geschichtsstudentin. Auch ihr Elternhaus sei durch russischen Beschuss zerstört worden. Ungefähr zwei Wochen, nachdem sie ihre Eltern dazu überredet habe, das Haus zu verlassen und nach Saporischschja zu ziehen. "Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sie nicht auf mich gehört hätten", sagt Boiko. Auch wenn alle drei Frauen an diesem Tag von persönlichen Schicksalsschlägen berichten, machen sie zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, dass sie am Erfolg des ukrainischen Abwehrkampfes zweifeln. "Die Ukraine ist unser Land und sie wird es bleiben", sagen sie kämpferisch.

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