Herford. Ein Auftragskiller, eine angeblich untreue Ehefrau, ein Ehemann, der sich gehörnt und entehrt fühlt und auf Rache sinnt. Es ist ein Fall, der vor 25 Jahren überregional für Aufsehen sorgt und auch die ostwestfälischen und niedersächsischen Ermittlungsbehörden teils über Jahre beschäftigt. Denn zwei der Drahtzieher kommen aus Herford.
Es ist der 5. April 1998. Ein unbekannter Kunde betritt das Obst- und Gemüsegeschäft im niedersächsischen Sulingen. Der Mann mit der gelbbraunen Jacke, den lichten Haaren und dem Oberlippenbart zieht eine Pistole, schießt. Fünf Kugeln treffen den 38-jährigen Inhaber des Ladens. Der Killer rennt aus dem Geschäft zu einem roten Golf, der in der Nähe wartet. Der Komplize gibt Gas.
Die Spur der beiden Männer verliert sich - zunächst. Doch bereits das Herforder Kennzeichen führt die Ermittler der Mordkommission letztendlich an die Werre und zu den Auftraggebern – und später zu dem Schützen.
Die Tat wird weitere tödliche und mittelalterlich erscheinende Konsequenzen nach sich ziehen. Es geht um Blutrache zweier verfeindeter kurdisch-jesidischer Familien und um einen jungen Studenten, der sich von seinen Angehörigen zur Blutrache für seinen getöteten Bruder gezwungen fühlt.
Blutrache und Tod - Alle Fakten im Überblick
- Es geht um Blutrache zweier verfeindeter kurdisch-jesidischer Familien und einem Studenten, der sich von seinen Angehörigen zur Blutrache für seinen getöteten Bruder gezwungen fühlt. Am 5. April 1998 betritt ein Mann ein Gemüsegeschäft, zieht eine Pistole, schießt und flieht mit einem Komplizen.
- Angeheuert für die Tat haben ihn zwei kurdisch-jesidische Herforder, die sich in ihrer Ehre verletzt fühlten - denn das Opfer soll eine Affäre mit der Ehefrau des einen Auftraggebers gehabt haben. Die ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY" berichtet über den Fall.
- Das Herforder Kennzeichen führt die Ermittler der Mordkommission letztendlich zu den Auftraggebern - und zu dem Schützen. Im Dezember 1999 wird das Täter-Trio vom Landgericht in Verden verurteilt. Der Schütze soll für 12 Jahre, die Herforder Auftraggeber für neun Jahre in Haft.
- Die Familie des Opfers will Rache. Ein anderes Mitglied der gegnerischen Familie muss sterben. Der Sohn des toten Geschäftsmannes weigert sich und begeht Suizid. Somit sieht sich der jüngere Bruder des Getöteten gezwungen, den Ehrenmord zu begehen.
- Als Postbote getarnt macht er sich am 2. Januar 2001 auf den Weg von Lüneburg nach Herford und erschießt sein Opfer an der Haustür. Wenige Stunden nach der Tat wird der Student festgenommen und zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.
Fahndung auf ZDF-Sendung Aktenzeichen XY
Die ZDF-Sendung Aktenzeichen XY berichtet noch im Sommer über den Fall, zeigt ein Phantombild des Schützen und es wird öffentlich nach dem Fahrer des roten Golfs gefahndet. Der Herforder ist der Gatte der angeblich untreuen Frau. Er könnte sich, so heißt es, nach Frankreich oder in die Türkei abgesetzt haben. Eine Belohnung von 5.000 Mark ist ausgesetzt. Am 30. Juni 1998 wird er dann aber in den Niederlanden wiedererkannt, festgenommen und ausgeliefert.
Wie später bekannt wird, hatte er sich tatsächlich über die Türkei und Syrien abgesetzt und war dann aber von dort nach Holland gereist. Drei Tage nach der Festnahme in den Niederlanden kann der Auftragskiller, ein 38-jähriger Deutscher, festgenommen werden. Beide Männer gestehen die Tat. Auch ein weiterer Drahtzieher, der ebenfalls in Herford lebende Vater des Golf-Fahrers, wird nun festgenommen.
Das Motiv der beiden Männer, für 3.000 Mark einen Mörder anzuheuern, klingt archaisch. Es bedeutet faktisch für den Sulinger Geschäftsmann das Todesurteil. Das spätere Mordopfer soll, so die These der beiden Anstifter aus Herford, ein Verhältnis mit einer Nachbarin gehabt haben. Und diese angeblich untreue Nachbarin gehört zur Familie der beiden Herforder Auftraggeber. Aus Sicht des Ehemanns und seines Vaters ist das ein ungeheuerlicher Affront, der nur mit dem Tode des Nebenbuhlers gesühnt werden kann. Offensichtlich agieren sie damals zunächst im Glauben, unbescholten davon zu kommen. Doch dem ist nicht so.
Herforder Auftraggeber und der Schütze werden verurteilt
Im Dezember 1999 wird das Täter-Trio – die beiden Auftraggeber und der Schütze – vom Landgericht im niedersächsischen Verden verurteilt. Der damals 38-jährige Schütze soll wegen Mordes für 12 Jahre ins Gefängnis, seine beiden Finanziers aus Herford erhalten wegen Anstiftung zum Totschlag und Beihilfe zum Totschlag neun Jahre Haft.
Als der Vater schließlich aus der Haft entlassen wird, schließt sich eine monatelange juristische Auseinandersetzung zwischen ihm und der Stadt Herford vor dem Verwaltungsgericht Minden an. Denn das Ausländeramt will ihn ausweisen – auch wenn eine faktische Ausreisepflicht auf Grund der gewährten Duldung nicht besteht. Doch gegen die Ausreisepflicht geht er vor. Er habe er sich mittlerweile von der Sitte der Blutrache distanziert, führt der Vater vor dem Verwaltungsgericht an. Die Richter glaubten ihm jedoch nicht, dass er sich von der Gewaltanwendung als Mittel zur Wiederherstellung der Familienehre gelöst hat. Aus den im Strafverfahren eingeholten psychologischen Gutachten ergebe sich,
dass er weiterhin fest in den Gebräuchen und Sitten der türkischen Jesiden verhaftet sei, erklären sie.
Drang nach Vergeltung: Was das Urteil auslöst
Dieses damalige Verhaftetsein in den Traditionen löst aber auch in der Familie des Opfers den Drang nach Vergeltung aus. Denn die Urteile des Landgerichts Verden werden von ihnen ganz offensichtlich mit Wut und Enttäuschung zur Kenntnis genommen – man sieht dort das Strafmaß als zu gering an und sieht sich zum Handeln genötigt. Da die beiden Hauptverantwortlichen bereits in Haft sitzen und unerreichbar sind, bedeutet das, dass nun ein anderes Mitglied der gegnerischen Familie sterben muss. Es gilt als in den Ehrenmord verstrickt. Doch wer soll die Tat begehen?
Zunächst hätte nach der Tradition der Sohn des getöteten Geschäftsmannes handeln und ein Mitglied der anderen Familie umbringen müssen, also einen Ehrenmord begehen. Doch der 17-Jährige, so wird später bekannt, weigert sich und wählt den Freitod.
Damit steigt aber nun der Druck auf den jüngeren Bruder des Opfers. „Ich wusste, ich muss handeln", erinnerte er sich später. Der junge Mann sieht sich – inzwischen Student an einer Uni in Niedersachsen – in einem Zwiespalt zwischen seinem Leben in der kurdisch-jesidischen Traditionen und dem Leben im modernen Deutschland. „Als Jeside ist man Besitz der Familie und der Gemeinschaft, sie schreibt alles vor. Deutsche Jungs hatten eine Freundin, gingen in die Disco. Solange ich zu Hause lebte, habe ich mich an unsere Regeln gehalten", schreibt er später und stellt sich selbst als tragische Figur dar. Denn wenn er nicht gehandelt hätte, hätten seine anderen Brüder angeblich zur Waffe greifen müssen. „Hätte ich es nicht getan, hätte es einer von ihnen tun müssen. Ich wollte sie verschonen. Ich bin Täter und Opfer", führt er später aus.
Schütze besorgt sich Pistole Monate zuvor in Hamburg
Und der Täter besorgt sich schließlich über dunkle Kanäle schon Monate vor der Tat in Hamburg eine Waffe – und das Opfer steht auch schon fest. Am 2. Januar 2001 steigt er in seinem Golf und fährt von Lüneburg nach Herford. Als Tarnung tritt er als Postbote auf. Er hat sich eine schwarze Jacke gekauft und sie mit gelben Streifen ausstaffiert.
Um authentisch zu wirken, hat er auch ein Bündel Briefumschläge bei sich. Gegen 15.10 Uhr klingelt er. Es öffnet ein junges Mädchen. Der 26-Jährige behauptet ihr gegenüber, ein Einschreiben zu bringen, das er persönlich übergeben müsse. Als sein 27-jähriges Opfer an die Tür kommt, zieht er die Waffe und sagt noch: „Ich muss dich leider töten". Das Opfer kann gerade noch „warum" fragen, dann wird es von fünf Schüssen in Kopf und Brust getroffen.
Zunächst schafft es der Schütze noch unbehelligt in seine Heimatstadt zurück. Aber sein Golf mit dem norddeutschen Kennzeichen ist aufgefallen. Die Ermittler der Mordkommission, die direkt nach den Schüssen eingesetzt wird, haben es vorliegen – und schnell zeigt sich auch die Vorgeschichte der Tat. Bereits Stunden nach den Schüssen in Herford wird der Student in seiner Bude festgenommen und einem Haftrichter vorgeführt. Hinter dem jungen Mann, der es mit Fleiß aufs Gymnasium geschafft und als erster aus seiner Familie studiert hat, schließen sich die Gefängnistore für Jahre. Das Landgericht Bielefeld verurteilt ihn später wegen Mordes zu elf Jahren Gefängnis.
Verfahren als "Konsequenz einer unmenschlichen Blutrache"
In seinem Schlusswort bittet der Schütze die Herforder Familie seines Opfers um Verzeihung. Richterin Jutta Albert bezeichnet in ihrer mündlichen Urteilsbegründung das Verfahren als „Konsequenz einer unmenschlichen Blutrache". In den beteiligten Familien habe es insgesamt drei Tote und drei zu langjährigen Haftstrafen Verurteilte gegeben. Der Schütze sei in einen Konflikt geraten, den er nicht habe lösen können. Während seiner Haftzeit absolviert der junge Mann eine Ausbildung und wird schließlich vorzeitig entlassen. Er soll heute anonym in einer deutschen Großstadt leben. Möglicherweise in Angst.