"Nur zur Schule, um zu prügeln": Zahl krimineller Kinder in OWL steigt dramatisch

Bielefeld/Herford/Paderborn. Es gibt immer mehr kriminelle Kinder unter 14 Jahren in Nordrhein-Westfalen. Um 41 Prozent stieg die Anzahl der Tatverdächtigen von 2021 auf 2022. Ein Trend, der sich auch in Ostwestfalen-Lippe widerspiegelt. Allerdings verzeichnen hier alle Kreise noch deutlich höhere Anstiege als das Land. Die Ursachen dafür allein in der Pandemie zu suchen, ist in den Augen von Experten allerdings zu kurz gedacht. Spitzenreiter bei den kriminellen Kindern ist der Kreis Minden-Lübbecke. Hier gab es zum Vorjahr einen Anstieg von rund 109 Prozent bei den Tatverdächtigen unter 14 Jahren. Es folgen der Kreis Lippe mit einem Anstieg von 77 Prozent und der Kreis Herford mit 72 Prozent. Der Kreis Höxter verzeichnet einen Anstieg von 60 Prozent, der Kreis Paderborn von 58 Prozent und der Kreis Gütersloh von 45 Prozent. Auch die Stadt Bielefeld meldet einen deutlichen Zuwachs, und das auch bei einer langfristigen Betrachtung der vergangenen Jahre: Um 50,7 Prozent wuchs die Zahl der Tatverdächtigen unter 14 Jahren, Kripo-Chef Wolfgang Niewald spricht von einem 10-Jahres-Hoch. Große Sorgen bereitet ihm allerdings eine andere Zahl: Denn erneut ist auch die Zahl krimineller Jugendlicher angewachsen, in Bielefeld sogar um 44 Prozent. Dieser Trend lässt sich ausnahmslos in allen anderen Kreisen beobachten. Das Problem laut Niewald: "Kinder begehen Straftaten oft nur in einer bestimmten Lebensphase. Dieses episodenhafte Verhalten konnte man in den vergangenen Jahren gut am Rückgang der Jugendkriminalität erkennen. Jetzt muss man befürchten, dass sich kriminelles Verhalten bei einigen Kindern manifestieren könnte und sie frühzeitig kriminelle Karrieren beginnen." Sozialpädagogin sieht Gründe nicht nur in Pandemie Während die Zahlen anscheinend mehr als deutlich sind, äußern sich Experten zu den Hintergründen vorsichtig. Überrascht hat die Entwicklung allerdings niemanden. &bdquo;Dass aus der Pandemie und dem Umgang mit Kindern und Jugendlichen in dieser Zeit Folgen resultieren, haben wir erwartet“, sagt Elke Lüke-Stukenbrok vom Verein Kreis 74 e.V., Träger der &bdquo;Brücke Bielefeld“, welche spezialisiert ist auf die sozialpädagogische Arbeit mit straffällig gewordenen Jugendlichen und Heranwachsenden. Die Entwicklung ausschließlich auf die Lockdowns und den Wegfall sozialer Netze in der Pandemie zu schieben, wird der Situation in ihren Augen aber nicht gerecht. &bdquo;Die Gesellschaft ist seit Jahren im Wandel, es fällt Kindern und Jugendlichen zunehmend schwerer, sich zu orientieren. Und immer mehr fallen angesichts zu weniger Angebote durchs Raster.“ Eine eindeutige Antwort für den plötzlichen Anstieg hat auch Martin Rettenberger nicht. Er ist Direktor der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) in Wiesbaden und mahnt zur Vorsicht bei der Bewertung. "Bei dieser Statistik handelt es sich um erfasste Fälle – nicht um Kriminalität selbst. Da muss man genau trennen." Dennoch gibt die Pandemie in Rettenbergers Augen auch plausible Gründe her für die Zunahme von Tatverdächtigen im Kindesalter. "Sicherlich kann man sagen, dass Langeweile und Frust ein großer Motor sind bei der Begehung von Straftaten. Und wir haben drei Jahre hinter uns, in denen es kaum Freizeit- oder Sportangebote gab, in denen feste Netzwerke wie Schule weggebrochen sind." Grundsätzlich gebe es zwei Gruppen von Straftätern unter 18 Jahren: "Das sind zum einen die, die vorübergehend in den minderschweren Bereich fallen und Straftaten als Regelvergehen begreifen, als Möglichkeit, zu rebellieren, sich abzugrenzen. Und dann sind da die anderen, bei denen die Delikte der Startpunkt sind für eine dauerhafte kriminelle Karriere." Schulleiter: Kinder verstoßen gegen Werte Kinder dieser Gruppe kennt auch Dirk Rahlmeyer, Schulleiter der Europaschule in Bad Oeynhausen. Immer wieder sorgt hier eine kleine Gruppe von sechs bis zehn Schülern zwischen 12 und 17 Jahren für Gewalt und eine erkleckliche Anzahl Straftaten. In Rahlmeyers Augen ist das große Kernproblem die Wertevermittlung. "Wir haben hier etliche Kinder, die zuhause weder lernen, dass ein Verstoß gegen das Wertesystem Folgen hat, noch, dass sie erleben, dass ihre Eltern das Schuleschwänzen ahnden. Die bleiben mit dem Einverständnis der Eltern fern. Und kommen höchstens mal, um sich zu prügeln." Zwar ist die Europaschule in Sachen Schulsozialarbeit gut aufgestellt, zehn Mitarbeiter sind hier im Einsatz. "Wir haben viele engagierte Kolleginnen und Kollegen, die mittlerweile aber auch schlechte Erfahrungen gemacht haben. Im Zweifel verbünden sich Täter und Opfer, andere Familienangehörige geben dem Täter ein Alibi oder uns wird Sexismus oder Rassismus vorgeworfen." In Rahlmeyers Augen würde in Bad Oeynhausen nur ein schnelles und gebündeltes Eingreifen von Schule, Jugendamt und Polizei helfen, um der Situation anhaltend Herr zu werden. "Wir dürfen Problemschüler nicht an einer Schule selektieren. Und natürlich müssten die Eltern mitziehen. Aber diese Voraussetzungen haben wir nicht, jeder rödelt im Moment noch alleine. Das System ist nicht fähig, sich so schnell zu entwickeln, wie die Umstände im Außen. Und das ist fatal." Auch in den Augen von "Brücke Bielefeld"-Mitarbeiterin Elke Lüke-Stukenbrok gibt es zu wenig gute Strukturen, die Kinder und Jugendliche auffangen. "Wenn man die erst mal im Netz hat, dann sind die zugänglich, die haben soziale Kompetenzen und sind erstaunlich reflektiert, das erleben wir hier jedes Mal in der Arbeit." Zu den wichtigen Säulen der Brücke Bielefeld gehören Kompetenztrainings, soziale Trainingskurse und Täter-Opfer-Ausgleichsarbeit. "Es geht vor allem darum, das eigene Verhalten zu hinterfragen und sich gut dafür aufzustellen, in einer neuerlichen Situation anders zu reagieren." Manche Jugendliche seien nicht in der Lage, gute Entscheidungen zu treffen, wenn es darum ginge, straffrei zu bleiben. "Und da ist das Freizeitverhalten ganz wichtig." Auch die digitale Welt spiele hier eine große Rolle. "Viele Kinder bekommen hier zu wenig Kompetenzen vermittelt – und dann konsumieren sie natürlich ungefiltert alles, was sie in die Finger kriegen. Das ist ganz kritisch zu sehen."

Meistgelesen