Zwang, Demütigung, Schläge Gewalt an NRW-Kitas steigt deutlich: "Sitzengelassen im eigenen Urin"

Bielefeld/Münster. Demütigungen, Erniedrigungen, körperliche und sexuelle Übergriffe: schon wenn der Verdacht auf eines dieser Vergehen in Kitas besteht, muss das gemeldet werden. Ein Blick in die Statistik der Landesjugendämter zeigt: Seit 2018 sind die Meldezahlen sprunghaft angestiegen. Experten gehen davon aus, dass die Meldungen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Vorgänge erfassen. Besonders eklatant ist die Entwicklung im Rheinland. Erfasste das hier zuständige Landesjugendamt 2018 noch 34 Fälle von pädagogischem Fehlverhalten, waren es 2020 schon 120. Diese Zahl verdoppelte sich im Folgejahr nahezu auf 222 Fälle. Auch bei körperlicher Gewalt ist ein starker Anstieg verzeichnet. Von 42 Fällen im Jahr 2018 kletterten die Meldezahlen in der Pandemie stetig nach oben, 2021 waren es mehr als doppelt so viele. Bei sexuellen Übergriffen stieg die Zahl von 38 Fällen in 2018 auf 76 in den Jahren 2020 und 2021. In der Region Westfalen-Lippe sind grundsätzlich weniger Fälle erfasst, doch auch hier sind starke Anstiege zu beobachten. Bei unangemessenem Erziehungsverhalten, wie es beim zuständigen Landesjugendamt heißt, verdoppelten sich die Meldungen nahezu von 2019 bis 2021 von 33 auf 62. Die Fälle von körperlicher Züchtigung stiegen von 22 auf 54. Meldungen über sexuelle Übergriffe stiegen von 16 auf 29. Landesjugendamt Westfalen-Lippe hält Statistik zurück Sprecher beider Landesjugendämter führen den Anstieg auf eine erhöhte Sensibilisierung bei Eltern, Erziehern und Trägern zurück. Dies habe auch mit einer Kampagne für Gewaltschutz zu tun, die beide Ämter 2020 durchgeführt hatten. Experten aus dem Kinderschutz sind derselben Ansicht und begrüßen die gestiegenen Meldezahlen deshalb. &bdquo;Allerdings zeigen auch sie bei weitem kein realistisches Bild vom tatsächlichen Geschehen in den Kitas“, sagt die Vorsitzende des Kinderschutzbundes NRW, Gaby Flösser. &bdquo;Das ist allenfalls die Spitze des Eisbergs. Denn nach wie vor gilt es in den Einrichtungen als Nestbeschmutzung und Verrat, wenn man solche Vorfälle meldet." Die Schuld nur beim Personal zu suchen, ist in Flössers Augen falsch. "Die Situation zeigt deutlich, wie sich der Personalmangel und die Überforderung niederschlägt. Das ist ganz klar politisches Versagen, weil sich niemand um die desaströse Lage in den Kitas kümmert. Und man muss klar sagen: Da gibt es auf politischer Ebene eine Allianz des Nichthinschauens.“ Erzieherin aus OWL berichtet von Gewalt gegen Kinder Doch auch bei den zuständigen Stellen, zum Beispiel den Jugendämtern der Städte, Kreise und des Landes liegt einiges im Argen, wie die Recherchen zu diesem Bericht ergaben. Auf Anfrage teilten die Jugendämter der Kreise Herford, Gütersloh, Minden-Lübbecke Höxter, Lippe und der Stadt Bielefeld mit, dass sie keine eigene Statistik zu den gemeldeten Fällen erheben. Der Kreis Paderborn wertete die Zahlen anlässlich der Anfrage aktuell aus. Alle angefragte Stellen verwiesen an das Landesjugendamt. Auch auf mehrfache Anfrage hin hielt man dort die Statistik zunächst aber unter Verschluss. &bdquo;Die gewünschten Zahlen liegen uns nicht vor, da solche Fälle von uns nicht statistisch erfasst werden“, lautete ein erstes Antwortschreiben eines Sprechers. Die zweite Instanz in NRW, das Landesjugendamt Rheinland, lieferte dagegen innerhalb kürzester Zeit eine dezidierte Aufstellung der Zahlen. Erst durch einen internen Hinweis aus dem Landesjugendamt Westfalen-Lippe, dass diese Statistik sehr wohl existiere und einer darauffolgenden Anfrage an das Familienministerium NRW, konnten die Zahlen in Erfahrung gebracht werden. So teilte der selbe Sprecher noch am gleichen Tag plötzlich mit, man habe die Anfrage als Anlass genommen, die gewünschten Zahlen für drei Jahre zu extrahieren. Wie dringlich es ist, hier genau hinzuschauen, zeigen die Schilderungen von Antje B., einer Erzieherin aus OWL. Sie wechselte wegen immer wiederkehrender Gewalt durch Kollegen gegenüber Kindern die Kita. "Ich habe miterlebt, wie Kinder gewaltsam auf Stühle gesetzt wurden, wie Stühle unter ihnen weggerissen wurden, sodass sie auf den Hinterkopf fielen. Ich habe Kinder gesehen, die in ihrem eigenen Urin sitzengelassen wurden, als Strafe, weil es schon die dritte vollgepinkelte Hose in drei Tagen war. Und ich habe Beweisfotos von Eltern gesehen, auf denen ihr Kind Gebissabdrücke in der Haut hatte, die nur von einem Erwachsenen stammen konnten." Lesen Sie auch unseren Kommentar: Viel Gewalt in Kitas: Politisches Versagen brandmarken Auch die Pädagogin Anke Elisabeth Ballmann hat solche Vorfälle zu Hunderten erlebt. Fünf Jahre lang besuchte sie als Bildungsreferentin und Sprachberaterin rund 500 Kitas. Sie sah, wie Kinder erpresst, gedemütigt, beschimpft, isoliert und eingeschüchtert wurden und beschloss, darüber ihr Buch "Seelenprügel" zu schreiben. "Gewalt, seelische und körperliche, ist in deutschen Kitas normal. Die Personen, die das tun, sind schwarze Schafe - aber es gibt sie in fast jeder Kita. Wir haben nicht nur einen Personalmangel, wir haben auch mangelhaftes Personal. Weil hier mittlerweile wegen der Knappheit jeder eingestellt wird, der aufrecht gehen kann. Und das darf nicht sein." Auch nach Meinung von Ballmann darf die Debatte deshalb nicht allein auf dem Rücken von Erzieherinnen und Erziehern ausgetragen werden. "Das System ist am Ende. Wir haben den Alltag in Kitas, dass eine Person allein für acht bis zwölf Kinder unter drei Jahren zuständig ist - da kann man noch so eine begnadete Pädagogin sein, das wird sich im Umgang bemerkbar machen. Und es passiert von politischer Seite aus fast nichts, um dem entgegenzuwirken. Das ist eine einzige Vollkatastrophe."

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