Nordrhein-Westfalens Wirtschafts- und Klimaschutz-Ministerin Mona Neubaur schwört das Land auf ein weiteres Krisenjahr ein. Die Grünen-Politikerin ruft die Menschen zum Energiesparen auf und will den Industriestandort NRW sichern. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht die 45-Jährige stellvertretende Ministerpräsidentin über die bevorstehende Räumung des Braunkohledorfs Lützerath, Anfeindungen, die Folgen des Ukraine-Kriegs und beruhigt die Menschen: Für Strom- und Gasausfälle sieht sie „keine Anzeichen“.
Wie bereiten Sie sich als Ministerin auf den Tag X der Räumung des Braunkohledorfs Lützerath im Januar vor?
Das beschäftigt mich natürlich, gerade in den Momenten, in denen ich zur Ruhe komme. Die Räumung ist ein schmerzlicher, aber leider notwendiger Schritt. Wir erreichen damit, im Rheinischen Revier acht Jahre früher aus der Kohle auszusteigen. Dass dieser riesige Erfolg auf der anderen Seite zu einer herausfordernden Situation im Januar führt, war klar. Deshalb mache ich mir natürlich Gedanken, an welchen Stellen ich deeskalieren kann.
Wie wollen Sie in ihrer Funktion in dem Konflikt deeskalieren?
Ich stelle mich der Kritik und ducke mich nicht weg. Wenn ich auf Aktivistinnen und Aktivisten treffe, zum Beispiel hier am Gebäude des Wirtschaftsministeriums, biete ich den Dialog an. Diese Gespräche nutze ich, um die rechtlich eindeutige Situation vor Ort zu erläutern und noch einmal deutlich zu machen, in welcher Lage wir gerade durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sind und welche Notwendigkeiten daraus entstehen.
Ist eine gewaltlose Räumung in Lützerath noch möglich?
Das wäre meine große Hoffnung, aber dafür müssen alle Seiten mitmachen. Es muss möglich sein, legitimen Protest über Demonstrationen und Kundgebungen zum Ausdruck zu bringen. Sollte es zu einem Polizeieinsatz und einer Räumung kommen, appelliere ich an alle Beteiligten, das so gewaltfrei wie irgend möglich hinzubekommen.
Die Grünen-Basis wirft Ihnen Verrat an den Grünen-Idealen vor, weil sie auf der Seite derer stehen, die Lützerath räumen wollen. Sie waren als Grünen-Landeschefin selber in dem Dorf. Wie geht es Ihnen mit diesen Vorwürfen?
Es war keine einfache Entscheidung, aber ich kann sie mit Haltung vertreten, auch weil wir fachlich sehr intensiv haben prüfen lassen. Wir haben erreicht, dass der Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorgezogen wird, dass fünf Dörfer vor der Zerstörung gerettet werden konnten und dass rund 280 Millionen Tonnen Braunkohle sicher unter der Erde bleiben.
Stimmt es, dass Sie Anfeindungen ausgesetzt sind?
Bedrohungen und Herabwürdigungen sind nicht unbedingt neu für Politikerinnen. Das ging mir auch als Grünen-Vorsitzende und als Spitzenkandidatin so, aber die Dimension ist jetzt noch andere - auch weil die Angriffe gerade aus sehr vielen Richtungen kommen. Ich besitze aber das große Privileg, auf ein Netzwerk zurückgreifen zu können, das diese Vorgänge rechtlich prüfen lässt, sie einordnet und mir im Zweifel Schutz zur Seite stellt.
Wie weit muss der Rechtsstaat radikale Klimaproteste - Kartoffelbrei auf Kunstwerke, verklebte Scheiben an Ihrem Ministerium oder Landebahnen blockieren - aushalten?
Protest und Widerspruch gehören zum Lebenselixier einer Demokratie. Unsere Gesellschaft hält zusammen, dass Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch dann verteidigt wird, wenn es für Regierungen unangenehme Demonstrationen sind. Das müssen wir aushalten. Ansonsten rate ich dazu, nicht gleich in Schnappatmung zu verfallen, sondern genau zu prüfen, welche Maßnahmen notwendig sind.
Waren die Razzien gegen die Klimaaktivisten der Letzten Generation gerechtfertigt?
Ich muss davon ausgehen, dass ausreichend Indizien dafür vorlagen. Das setzt der Rechtsstaat voraus. Wo Protest mit Straftaten einhergeht, muss der Rechtsstaat diese dann auch nach seinen Möglichkeiten ahnden.
Ist eine nochmalige Verlängerung der Laufzeit der letzten Atomkraftwerke hinaus vor dem Hintergrund der Energiekrise denkbar?
Bundeskanzler Olaf Scholz hat bestätigt und damit festgelegt, dass am 15. April 2023 die Laufzeiten für die verbliebenen Atomkraftwerke in der Bundesrepublik enden. Ich würde mir wünschen, dass alle mit voller Entschlossenheit die Maßnahmen einfordern, die für den Aufbau der nachhaltigen Energieversorgung dringend gebraucht werden - der Ausbau der erneuerbaren Energien, das Erkunden von Tiefen-Geothermie, ambitionierte Energieeffizienzmaßnahmen. Für die Lösungen der Zukunft helfen nicht die Antworten aus der Vergangenheit.
Müssen die Menschen in NRW im Winter mit Strom- und Gasausfällen rechnen?
Dafür sehe ich derzeit keine Anzeichen. Durch eine Kraftanstrengung in Bund und Land sowie einen milden Herbst haben wir gut gefüllte Gasspeicher in der EU, in Deutschland und auch in Nordrhein-Westfalen. Trotzdem gilt weiterhin: Jede Kilowattstunde Strom, die wir nicht einsetzen, ist eine, die wir nicht wieder teuer einkaufen müssen. Deshalb fahren wir in Kooperation mit dem Handwerk aus dem Wirtschaftsministerium heraus seit September eine Energiesparkampagne. Jeder und jede kann seinen oder ihren Teil beitragen, dass wir gut durch diesen und den nächsten Winter zu kommen.
Die Landesregierung hat ein 1,6-Milliarden-Hilfspaket zur direkten Krisenbewältigung beschlossen. Daraus sollen aber zum Beispiel auch 160 Millionen für ein Investitionsprogramm Energie- und Wärmewende und 90 Millionen Euro für ein Förderprogramm emissionsarme Mobilität gezahlt werden. Sind das nicht eher langfristige schwarz-grüne Koalitionsprojekte?
Jede Maßnahme, die Unternehmen, Wohnungswirtschaft, Mieter oder Pendler dabei unterstützt, unabhängig von der Preisspekulation der Rohstoffbörsen und der Geopolitik Russlands zu werden, ist konkrete Krisenbekämpfung. Denn auf der anderen Seite mildern wir mit Ideen wie Zuschüssen zum Heizen oder dem Tankrabatt nur Symptome ab. Das ist in der momentanen Situation richtig. Aber mit dem, was wir jetzt vorhaben, werden wir die Ursachen abstellen. Das ist Krisenbewältigung mit Nachhaltigkeit.
Wann fließt das erste Geld aus dem Krisen-Hilfspaket?
In allen Ministerien wird auch zwischen den Jahren hart daran gearbeitet, dass die Mittel zeitnah fließen. Wir wollen schnell helfen und wissen um unsere Verantwortung.
Überhaupt das erst kurz vor Jahresende beschlossene Sondervermögen Krisenbewältigung in Höhe von bis zu fünf Milliarden Euro: Andere Bundesländer hatten schon eher ihre Hilfspakete geschnürt. Warum geht das in NRW nicht?
Weil wir zielgenau dort entlasten wollen und werden, wo Pakete des Bundes nicht ausreichen oder Lücken lassen. Klar ist, wir waren immer in der Lage, dort, wo Bürgschaften oder Sofortkredite notwendig waren, auch konkret zu helfen. Wir haben wichtige Entscheidungen auch schon lange vor den Haushaltsbeschlüssen getroffen - zum Beispiel den Schutzschirm für Stadtwerke, der elementar dafür ist, dass wir die Energieversorgungssicherheit gewährleisten können.
Das Hin und Her beim Haushalt hat aber auch zu Verunsicherung geführt. Fanden Sie das geglückt?
Wir befinden uns in einer extrem dynamischen Situation. In einer solchen Lage muss man agil bleiben und sich die Fähigkeit erhalten, umsteuern zu können, wenn Experten sagen, überprüft das noch mal. Am Ende bleibt unser gemeinsames Ziel, die Menschen in NRW so unbeschadet wie möglich durch diese Krise zu bringen. Das hatten wir die ganze Zeit im Blick. Auf dem Weg dahin haben wir die ein oder andere Abbiegung nehmen müssen, die wir in einem normalen Haushaltsjahr ohne Landtagswahl, ohne Ukraine-Krieg, ohne Energiekrise nicht gegangen wären.
Wie ist Ihre Prognose für 2023?
Es wäre fahrlässig zu glauben, dass am 1. Januar die Welt wieder eine andere und alles gut ist. Die Herausforderungen werden bleiben, deshalb wollen wir weiter Vorsorge betreiben. Gemeinsam mit der Industrie werden wir in einem Zukunftsdialog Signale setzen, wie wir NRW als attraktiven Wirtschaftsstandort weiter etablieren können. Entscheidend wird sein, in dieser Krisenzeit die Transformation der Industrie zu unterstützen. Wir wollen Brüche vermeiden und vor allem Sicherheit in diesem Wandel geben.
Welche Folgen hat der EU-Gaspreisdeckel für die energieintensive Industrie in NRW?
Wir brauchen für die Industrie ein Angebot, das den Standort NRW attraktiv hält. Im Moment liegt der Strompreisdeckel für die Industrie bei 13 Cent pro Kilowattstunde. Das ist deutlich zu viel für industrielle Prozesse. Es gibt die Bereitschaft der Bundesregierung, hier etwas zu unternehmen. Das ist beihilferechtlich nicht einfach, aber es ist für uns in NRW notwendig, weil wir hier zeigen wollen, dass wir den Weg zur Klimaneutralität als Land gemeinsam mit der Industrie schaffen. Dazu brauchen wir auch deutliche Preissignale in diese Richtung, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Energiekosten müssen auch nach den Preisbremsen kalkulierbar bleiben. Wir brauchen einen Preis, der notwendige Investitionen in große Transformationsvorhaben, etwa von der Gas- zur Wasserstoffversorgung, ermöglicht.