Psychiaterin über Bethel-Täter: "Die Unverfrorenheit gehört dazu"

Frau Saimeh, die Bielefelder Vergewaltigungsserie, verübt durch einen Assistenzarzt an Patientinnen auf der neurologischen Station einer Klinik in Bielefeld-Bethel, hält die Menschen in Atem. Die juristische Aufarbeitung – trotz des Suizids des Täters – läuft. Sind sexualisierte Übergriffe durch Ärzte oder Pflegekräfte in Kliniken grundsätzlich eher selten? Nahlah Saimeh: In Deutschland werden jährlich rund 19 Millionen Menschen im Krankenhaus behandelt. Fälle sexualisierter Übergriffe von medizinischem Personal auf Patienten sind sehr selten. Aber sie kommen vor. Welche wiederkehrenden Strukturen weisen solche Fälle auf? Rein formal betrachtet: Risikosituationen sind Vereinzelungssituationen. Daher sollten bei Verrichtungen am Patienten keine Vereinzelungssituationen entstehen. Auch zum Schutz des Personals gegen Fehlbezichtigungen. Das Problem geht ja in zwei Richtungen. Der Assistenzarzt in Bethel ist eigentlich gar nicht besonders subtil vorgegangen: Zwar hat er sich in Nachtdienste gedrängt, sein Vorgehen scheint aber auch von großer Unverfrorenheit, einem gewissen Größenwahn geprägt gewesen zu sein. Ist das typisch für solche Tätertypen? Was macht sie noch aus? Größenwahn ist der falsche Begriff. Hier geht es nicht um Realitätsverlust, sondern um ein sehr geschicktes Ausnutzen optimaler Rahmenbedingungen für sexuelle Übergriffe. Dazu braucht man &bdquo;Ruhe“, also weniger Personalpräsenz, so wie in der Nacht. Da ist die Gefahr der Entdeckung geringer. Die Patienten schlafen, viele bekommen ohnehin Schlafmittel. Es ist im Zimmer dunkel. Die Unverfrorenheit gehört dazu. Der &bdquo;Thrill“, die Möglichkeit, potenziell entdeckt zu werden und doch nicht entdeckt worden zu sein, gehört zum Reiz. Solchen, nennen wir sie "charismatischen" Tätern gelingt es offenbar, das komplette Klinikumfeld und auch ihr privates massiv zu täuschen. Am Ende ziehen sie eine &bdquo;Spur der Verwüstung“ hinter sich her – das betrifft Vorgesetzte, Kollegen, Patienten, sogar Familie und Freunde gleichermaßen. Müssen sich diese Vorwürfe gefallen lassen? Oder müssen sie selbst sich oft ebenfalls Hilfe suchen? Vorwürfe in Bezug auf Familie und Freunde kann man ja leicht mit einer Frage an sich selbst beantworten: Denken Sie an einen guten Freund, eine gute Bekannte. Was wissen Sie denn über deren nicht-öffentliches Leben? Über Sexualfantasien? In der Regel doch nichts. Schuldverschiebung auf Familie oder Freunde ist falsch. Bei Institutionen als Arbeitgeber stellt sich die grundsätzliche Frage, wie meine Kontrollstrukturen am Arbeitsplatz sind. Das ist aber ein sehr heißes Eisen und kann man nur mit Personalvertretern regeln. Für gute Arbeit braucht man ein gutes Arbeitsklima, das nicht von Feindseligkeit geprägt ist. Auf der anderen Seite muss man immer unparteiisch bleiben. Man darf nicht von vorneherein Dinge für unmöglich halten, nur weil man sie für furchtbar hält. Ich habe damals Ärzten in der Klinik verboten, Patienten jedes Geschlechts allein zu untersuchen. Das hat nichts mit individuellem Misstrauen zu tun, sondern mit dem strukturierten Blick auf Risikosituationen. Spielen die Verhältnisse in unseren durchökonomisierten Kliniken eine Rolle bei der Ermöglichung solcher Straftaten? Was müsste verbessert werden hinsichtlich der Prävention sexualisierter und anderer Gewalt? Sie können niemals komplette Sicherheit schaffen. Es gab einen riesigen Skandal in einer Klinik in Österreich, wo Pflegepersonal gemeinsam Patienten gequält und umgebracht hat. Wenn Sie also einen Sadisten mit einem Abhängigen losschicken, dann ist das auch nicht gut. Aber grundsätzlich halte ich persönlich von Vereinzelungssituationen nichts. Auch als medizinischer Dienstleister ist man in der Gefahr, Opfer von Fehlbezichtigungen zu werden. Die Anwesenheit Dritter schützt in jede Richtung besser. Das ist aber eine Personalfrage, also eine Kostenfrage. Wie wird in der Regel mit solchen Tätern verfahren, wenn sie noch greifbar sind und nicht, wie in den Bielefelder Fällen, verstorben? Sexuelle Übergriffe sind Straftaten. Es kommt zur Anzeige, die Staatsanwaltschaft ermittelt und dann gibt es natürlich ein Strafverfahren. So wie bei anderen Sexualstraftaten, die zur Anzeige kommen, auch. Was würde Betroffenen solcher Straftaten am meisten helfen? Was ich immer wieder höre: Opfern von Straftaten ist wichtig, dass nicht anderen Menschen später etwas Ähnliches widerfährt. Wenn ich selbst etwas erleiden musste, dann will ich doch wenigstens, dass dieses Leiden dazu führt, dass Andere in der Zukunft davor besser geschützt sind.

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