Impfkluft in Deutschland: Lassen sich Migranten seltener impfen?

Bielefeld/Erfurt. 61,4 Prozent der deutschen Bevölkerung verfügen inzwischen über einen vollständigen Impfschutz gegen das Coronavirus. Eine im internationalen Vergleich hohe Impfquote, doch mit Blick auf das Überangebot an Impfstoff in Deutschland zeigt die Quote auch eine erstaunlich hohe Anzahl an Ungeimpften. Doch woran liegt es, dass sich so viele Erwachsene nicht impfen lassen? Laut einer Studie der Universität Erfurt lehnen lediglich zehn Prozent der Bevölkerung eine Impfung kategorisch ab, der Rest zögert. Die Wissenschaftler haben verschiedene Typen von Impfskeptikern identifiziert. Auffällig: In drei der fünf Kategorien sind besonders viele Migranten vertreten. Doch lehnen Migranten Impfungen tatsächlich häufiger ab als Menschen ohne Migrationshintergrund? Erfasst wird die Herkunft geimpfter Bürger in Deutschland nach Angaben des Robert-Koch-Instituts nicht. Wissenschaftler der Universität Erfurt befragen seit März 2020 für ihr Covid-19 Snapshot Monitoring in regelmäßigen Abständen jeweils 1.000 Personen zwischen 18 und 74 Jahren zu ihrer Impfbereitschaft. Dabei zeigen die jüngsten Daten einen Rückgang der Impfbereitschaft unter den ungeimpften Befragten. Die Hindernisse sind nach Angaben der Forscher sowohl psychologischer als auch struktureller Natur. Studie identifiziert fünf Typen der Ungeimpften Eingeordnet werden können Impfskeptiker in die fünf Typen Misstrauische, Sorglose, Gestresste, Unentschlossene und Egoisten. In den ersten drei Kategorien sind überdurchschnittlich viele Migranten vertreten. Die Studie zeigt, dass Migranten vor allem im Frühjahr und Frühsommer ein geringeres Interesse an Impfungen aufgewiesen haben als Menschen ohne Migrationshintergrund. Als Gründe gegen eine Impfung nannten die Befragten am häufigsten mangelndes Vertrauen in die Effektivität und Sicherheit der Impfstoffe, strukturelle Hürden wie Stress, Zeitnot oder Bürokratie sowie eine geringe Motivation, andere durch eine eigene Impfung zu schützen. Zudem wurde Covid-19 als Krankheit keine große Bedrohung zugeschrieben und die Impfung deshalb als überflüssig wahrgenommen. Der Abstand der Impfbereitschaft zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund ist nach Angaben der Wissenschaftler zuletzt aber gesunken. Die Kluft begründen die Forscher mit der kulturell bedingten unterschiedlichen Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit sowie anderen Rollenerwartungen in Bezug auf den Arzt-Patientenkontakt. Für eine höhere Impfbereitschaft sei deshalb eine kultursensitive Gesundheitskommunikation nötig. Religion als Begründung gegen eine Corona-Schutzimpfung Hier sieht auch die Bielefelder Psychiaterin Solmaz Golsabahi-Broclawski großes Potenzial, die ihre Praxis als medizinisches Institut für transkulturelle Kompetenz leitet und Ärzte transkulturell weiterbildet. "Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit sowie die Interaktion zwischen Ärzten und Patienten sind durch unterschiedliche Normen und Werte kulturell geprägt. Diese Barrieren können Behandlungen erheblich erschweren und natürlich auch Auswirkungen auf die Impfbereitschaft haben." Golsabahi-Broclawski impft in ihrer Praxis gegen das Coronavirus und engagiert sich auch im Impfzentrum der Stadt Bielefeld. "Dort erlebe ich viele Menschen, die aufgrund ihres strengen Glaubens Impfungen ablehnen. Besonders häufig im Umfeld von Freikirchen oder bei strenggläubigen Katholiken." Überzeugungsarbeit ist laut der Psychiaterin schwierig, aber machbar. "Wir Ärzte müssen uns die Argumente anhören und als Vertrauenspersonen sachlich widerlegen. Möglich ist das auch im religiösen Kontext, da der Erhalt des Lebens in allen Religionen eine sehr wichtige Rolle spielt und Impfungen dazu beitragen." Psychiaterin fordert Aufklärung in leichter Sprache für alle Die Psychiaterin fordert zudem klare, transparente und ehrliche Aussagen der Politik in leichter Sprache rund um das Thema Impfen. "Das ist für alle Menschen in Deutschland wichtig, aber besonders für Migranten, da sich Ängste in einem fremden Land multiplizieren." Viele Migranten haben laut Golsabahi-Broclawski anfangs nicht verstanden, warum sie in Deutschland keinen Zugang zu Impfstoff hatten, sondern ausschließlich Senioren und bestimmte Berufsgruppen. "In vielen Herkunftsländern lief das anders, weil die Bevölkerung deutlich jünger ist. Aber all diese Unterschiede kann ich als Ärztin sachlich erklären und so Verständnis schaffen." Zudem informieren sich Migranten nach der Erfahrung von Golsabahi-Broclawski häufig in ihrer Muttersprache, weshalb Informationen und Anmeldungen zu Impfangeboten mehrsprachig angeboten werden sollten. "Menschen aus dem Nahen Osten sowie Ost- und Südeuropa berichten mir immer wieder von dem Verschwörungsmythos, dass man vier Jahre nach der Corona-Impfung stirbt. Das zeigt, wie wichtig es ist, seriöse Informationsquellen in Deutschland trotz Sprachbarrieren zu schaffen." Außerdem müssen Menschen mit Migrationshintergrund ihre Lebensweise in der Pandemie häufig mehr umstellen, als Menschen ohne Migrationshintergrund. "Viele Migranten leben in großen Familien, die Krisen als Gemeinschaft bewältigen und in großen Gruppen trauern, beten und ihren Glauben leben. Doch genau das erlaubt das Virus nicht, macht Betroffene sogar besonders anfällig." Die Umstellung solcher Gewohnheiten und Rituale falle Menschen deshalb schwer, weil dadurch Halt verloren gehe. Migranten erkranken häufiger schwer an Covid-19 Wie wichtig die Corona-Schutzimpfung insbesondere für Migranten ist, zeigt die hohe Zahl an Covid-19-Intensivpatienten mit Migrationshintergrund. "Medizinisch können wir noch nicht erklären, warum Menschen mit Wurzeln in der Türkei und Nordafrika häufiger schwer erkranken als andere", erklärt der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Hans-Albert Gehle. "Wichtig ist deshalb, dass die Aufklärung über Impfungen verbessert wird, um alle Teile der Bevölkerung zu erreichen", ergänzt Gehle, der als Intensivmediziner im Krankenhaus Bergmannsheil Gelsenkirchen tätig ist.

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