
Düsseldorf/Münster. Der Fall von sexueller Gewalt gegen Kinder und deren filmischer Verbreitung weitet sich – ähnlich wie der Fall Lügde – immer mehr zu einem Behördenskandal aus. Bereits ein halbes Jahr vor seiner Festnahme wussten die Justizbehörden, dass bei dem wegen des Besitzes von Kinderpornografie unter Bewährungsstrafe stehenden 27-Jährigen Adrian V. aus Münster erneut Mengen von kinderpornografischem Material gefunden worden war. Doch weder wurde die Bewährung widerrufen noch das Jugendamt zum Schutz seines zehnjährigen Stiefsohnes informiert. Das wurde jetzt im Innenausschuss des Landtags bekannt.
Das Dramatische an diesen Unterlassungen: Eine stundenlange brutale Vergewaltigung des Zehnjährigen und eines weiteren fünfjährigen Jungen durch vier Männer, darunter auch Adrian V., die sich in den Tagen 24. bis 26. April zugetragen haben soll, wäre den Kindern erspart geblieben, wenn die Bewährungsstrafe gegen Adrian V. widerrufen und der 27-Jährige schon ein halbes Jahr zuvor in Haft genommen worden wäre.
Berichte aus dem Innen-, dem Justiz- und dem Familienministerium in der Ausschusssitzung komplettieren das Bild von den Ermittlungen und Begleitumständen im Münsteraner Fall. Adrian V. ist danach 2016 und 2017 zweimal wegen des Besitzes von kinderpornografischem Foto- und Videomaterial zu jeweils zwei Jahren Haft verurteilt worden, die Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt, und die Bewährungsfrist lief noch.
Verschlüsselte Daten
Im Oktober 2018 fiel Ermittlern des Landeskriminalamtes ein Tauschnetzwerk mit kinderpornografischem Material im Internet auf. Die Ermittlungen führten zu einer IP-Adresse eines landwirtschaftlichen Betriebs im Kreis Coesfeld. Bei einer Durchsuchung dort am 11. April 2019 ergab sich kein weiterer Verdacht gegen den Besitzer des Betriebs, wohl aber stießen die Ermittler auf den 27-jährigen, einschlägig vorbestraften IT-Administrator Adrian V., der dort beschäftigt war.
Am 7. Mai 2019 wurde die Wohnung von Adrian V. durchsucht und dabei zahlreiche Datenträger sichergestellt. Alle Daten darauf waren von dem IT-Administrator verschlüsselt worden. Im November 2019 gelang es der Polizei, ein iPhone und ein iPad von Adrian V. zu entschlüsseln. Auf dem Handy wurden zahlreiche kinderpornografische Fotos und Videos – rund 500 Dateien – gefunden.
Die Kreispolizeibehörde Coesfeld unterrichtete am 25. November 2019 die Staatsanwaltschaft Münster, dabei sei auch die Frage des Bewährungswiderrufs besprochen worden, wie Dieter Schürmann, Chef des Landeskriminalamtes, im Ausschuss mitteilte. Aber nichts geschah. Das Gesetz sieht vor, dass eine Bewährung widerrufen werden kann, wenn der Verurteilte erneut eine Straftat begeht oder wenn er sich nicht an die Bewährungsauflagen hält. Juristische Kenner sind sich sicher, dass die erneute Sicherstellung von kinderpornografischem Material bei dem Verurteilten als Begründung für den Widerruf der Bewährung ausgereicht hätte.
Verhaftet wurde Adrian V. aber erst am frühen Morgen des 14. Mai 2020, als auf einem weiteren Laptop Bilder und Videos mit Missbrauchshandlungen an dem zehnjährigen Sohn seiner Lebensgefährtin entdeckt wurden. „Dem Staat ist es nicht gelungen, einen zehnjährigen Jungen zu schützen. Sechs Monate bis Mai 2020 musste der Stiefsohn des Hauptverdächtigen weiterhin mit diesem unter einem Dach leben. Und er ist in diesem Zeitraum auch missbraucht worden", sagte Hartmut Ganzke, innenpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, am Rande der Innenausschuss-Sitzung.
Nicht nachvollziehbar ist auch, warum das Jugendamt, das mit der Familie von Adrian V. bereits in den Jahren 2015/16 zu tun hatte, nicht früher eingriff. 2016 war die Behörde zu dem Entschluss gekommen, den heute zehnjährigen bei der Mutter zu belassen. Als jetzt erneut kinderpornografisches Material bei Adrian V. gefunden wurde, unterließen es Staatsanwaltschaft und Polizei offenbar, das Jugendamt zu informieren. Nach Angaben eines Vertreters des NRW-Familienministeriums wurde die Jugendbehörde erst am 13. Mai 2020, also unmittelbar vor der Festnahme von Adrian V. verständigt. Daraufhin nahm das Amt den Zehnjährige aus der Familie heraus und in Obhut.
Thomas Kutschaty, Chef der SPD-Landtagsfraktion, sagt, die Begleitumstände des Kindesmissbrauchs von Münster zeigten, dass der Fall Lügde mit seinem Behördenversagen kein Einzelfall sei. Wieder seien Behörden nicht rechtzeitig eingeschritten – man müsse inzwischen von einem sytemischen Versagen der Behörden sprechen, das es zu ergründen und abzustellen gelte.
INFORMATION
6 Opfer, 18 Tatverdächtige
Im Fall der sexuellen Gewalt gegen Kinder in Münster sind bislang sechs Opfer im Kindesalter und 18 Täter identifiziert worden. Sieben Tatverdächtige sitzen in Haft.
Nach Angabe von NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sind bislang 1.100 Datenträger mit einem Speichervolumen von mehr als 400 Terabyte sichergestellt worden. Das entspreche einem Schriftsatz von 2,6 Milliarden DIN-A-4-Seiten oder 520.000 Aktenschränken.
Die Zahl der Ermittlungsverfahren im Bereich Kinderpornografie und Kindesmissbrauch hat sich nach Angaben von Reul innerhalb des letzten Jahres von 1.895 auf 3.709 Verfahren verdoppelt.
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