Wirtschaft im Niedergang? Die zehn deutschen Wirtschaftssünden

Bielefeld. Gerald Willmann hat es nicht darauf abgesehen, Deutschland zu verteufeln. Der Wirtschaftswissenschaftler, Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Bielefeld, befasst sich besonders mit den Schnittstellen von Wirtschaft und Politik, und er stellt nüchtern fest: "Bei vielen Indikatoren steht Deutschland im internationalen Vergleich noch gut da." Als Beispiel nennt er die Lebenserwartung, die etwa in den USA in bestimmten Kreisen durch Medikamenten- und Drogenmissbrauch abgenommen habe. Ein anderer Pluspunkt sei das politische System, das hierzulande weiterhin vergleichsweise stabil sei. Im Hinblick auf die zunehmenden Klagen über den drohenden wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands aber fällt Willmann ein harsches Urteil: "Ich bin nicht überrascht, dass es wirtschaftlich nicht mehr so gut läuft", sagt er und zählt eine Fülle von Problemen, Versäumnissen und Fehlern auf. Dabei nennt er keineswegs nur Sünden der in Berlin regierenden Ampel-Koalition, sondern seine Analyse reicht zumindest bis in die Zeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel zurück. Zugleich gebe es aber auch Fehler, die von Unternehmern begangen würden, sowie Versäumnisse, die vielleicht der deutschen Mentalität geschuldet seien. Und Probleme, die aus geopolitischen Entwicklungen erwüchsen. Ein Cocktail, der auch zur Abwanderung von Firmen führen kann. 1. Deutschland sei mehr als andere Industrieländer von der Verunsicherung durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine betroffen. &bdquo;Deutschland ist einfach näher an der Ukraine dran“, nennt Willmann einen geographischen Umstand, für den niemand verantwortlich ist. Doch Berlin habe auch allzu lang &bdquo;einen Kurs der Annäherung an Russland gefahren“, sagt er mit Blick auf die Energiepolitik und viele deutsche Investitionen in Russland. Das seien Folgen echter politischer Fehler gewesen, "das fällt uns jetzt auf die Füße“. 2. Die deutsche Konjunktur leide derzeit besonders stark unter dem Ende der lockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und den wiederholten Zinserhöhungen. Angesichts der deutschen Wirtschaftsflaute dämpfe die aktuelle Zinspolitik die Entwicklung hierzulande noch zusätzlich, "aber die EZB macht eben Politik für alle Euroländer", erinnert Willmann. Für Zuhörer in manchen südeuropäischen Ländern, in denen die Wachstumsraten jetzt höher seien als bei uns, müssten sich die deutschen Klagen seltsam anhören, denn: "Deutschland hat jahrelang über die lockere Geldpolitik gemeckert". 3. In der deutschen Wirtschaft zeigen sich nach Willmanns Überzeugung immer stärker strukturelle Probleme: "Wir haben eine Ausrichtung auf old-fashioned Industrien wie die Produktion von Luxusautos", diagnostiziert er eine "altbackene" Struktur. Moderne Branchen wie Digitalwirtschaft und IT oder Dienstleistungsgeschäfte wie das Banking seien hingegen unterentwickelt. Das sehe in den USA und anderen Ländern völlig anders aus. 4. Auch die wirtschaftspolitische Ausrichtung sei lange Zeit einseitig gewesen – mit Russland als Energielieferant und China als Zulieferer und Absatzmarkt. "Der drohende Streit mit China etwa in der Taiwan-Frage könnte uns noch größte Probleme bereiten", warnt er. Denn viele Firmen sähen China eben noch immer als wichtigsten Absatzmarkt. Viele Unternehmen seien insofern wohl auch selbst verantwortlich für manche Probleme, weil sie in der Vergangenheit nur aus Eigennutz gehandelt hätten. Der Chemiekonzern BASF zum Beispiel habe sein Geschäft auf den Bezug von russischem Gas gegründet, und am Ende sogar Deutschlands größten Gasspeicher an den russischen Gazprom-Konzern verkauft. 5. Der deutschen Bevölkerung attestiert Willmann eine latente Fortschrittsfeindlichkeit. Die angelaufene Transformation im Energiesektor zum Beispiel sei sinnvoll, aber wenn es um den notwendigen Ausbau des Stromnetzes gehe, treffe das auf Widerstände. Ähnlich verhindert werde der Einsatz genmanipulierter Pflanzen in der Landwirtschaft oder der Austausch von Daten. "Ausländische IT-Unternehmen werden sich in Deutschland nur ungern ansiedeln", glaubt er. 6. Der Datenschutz sorge auch dafür, dass die deutsche Verwaltung bei der Digitalisierung zum Teil nur Entwicklungsland-Niveau erreiche. "Wir brauchten vor kurzem einen Anwohner-Parkausweis. Doch dafür hätte ich mir einen Tag freinehmen müssen", erinnert er sich. Er habe dann eine Vollmacht für einen Stellvertreter ausgestellt. Die Unfähigkeit, Daten zu integrieren, mache aber nicht nur die Bürokratie schwerfällig, sie durchziehe die gesamte Gesellschaft und betreffe die Kriminalitätsbekämpfung durch die mangelnde Vernetzung von Justiz und Polizei ebenso wie den Gesundheitsschutz, wie die Corona-Pandemie gezeigt habe. "Selbst simpelste Informationen werden nicht ausgetauscht", klagt er. 7. Zu den großen Unterlassungssünden in der Regierungszeit von Ex-Kanzlerin Angela Merkel zählt Willmann die Vernachlässigung der Infrastruktur: Es habe keine adäquaten Investitionen in die Modernisierung von Straßen, Brücken und Schienenwegen, die Internet-Infrastruktur, Bildung oder auch die Bundeswehr gegeben. "Bei der Versteigerung der 5-G-Mobilfunklizenzen ist etwa auf Auflagen für die Netzabdeckung verzichtet worden", moniert er. Verantwortlich für einen "gewaltigen Investitionsstau" sei auch der Glaube an die "schwarze Null", so der Wissenschaftler. Dieser Glaube sei in alter Form unsinnig – denn entscheidend sei, wofür das Geld ausgegeben werde. Eine echte Bilanzierung, eine Differenzierung bei den Ausgaben und eine Aktivierung von Investitionen finde allerdings nicht statt: "Stattdessen haben wir Kameralistik wie im Mittelalter". 8. Ein Teil der Konjunkturprobleme sei auch auf allzu hohe Anforderungen zurückzuführen – die gegenwärtige Flaute im Wohnungsbau sei zum Beispiel nicht nur auf die erhöhten Zinsen, sondern auch auf die hohen Baukosten zurückzuführen, die wiederum durch übermäßige Auflagen und Vorschriften entstehen. Solche Restriktionen behinderten in Deutschland auch die Entwicklung in neuen Branchen wie der Gentechnik oder der IT. 9. Ein Nachteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland sei schließlich auch der demografische Wandel: "Die Überalterung führt zu sinkender Bereitschaft zum Investieren", denkt Willmann mit Blick auf die geringe deutsche Risikobereitschaft. Ein Lösungsansatz liege in Zuwanderung, allerdings müsste sie selektiv sein wie in Kanada oder Australien. "Und wir bräuchten eine echte Willkommenskultur, denn derzeit ist Deutschland nicht besonders beliebt bei den hier benötigten Fachleuten." 10. Berlin reagiere auf die Problemlage zu hektisch, kritisiert Willmann: &bdquo;Die Politik muss jetzt die Grundlagen schaffen, damit die Menschen langfristige Investitionsentscheidungen treffen können.“

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