Wie Brexit und Corona-Krise einen Lkw-Fahrer aus OWL hart erwischen

Samstag, 9 Uhr, Dagenham, Ostlondon Für Axel Fischer (60) bedeutet der Brexit Warten. Seit sechs Tagen ist er unterwegs. Eigentlich wollte er in Dagenham nur kurz halten, um Zollpapiere abzuholen. Doch Zollagent Wayne muss ihn enttäuschen. Die Papiere für die Mikrowellen, die Fischer nach Gütersloh bringen soll, liegen noch bei den Behörden. In der Fahrerkabine lehnt sich Fischer zurück. Er trägt Jeans, Pullover, Warnweste. Sein Kinnbart hat sich auf die Wangen ausgebreitet. Morgen feiert seine Frau 59. Geburtstag. Fischer will heute Abend zurück in Hiddenhausen sein. Wenn Wayne nicht bald an die Fahrerkabine klopft, wird daraus nichts. &bdquo;Das Stehen macht mir nichts, wenn ich weiß, wie lange", sagt Fischer. &bdquo;Aber diese Ungewissheit zermürbt." Mit dem EU-Austritt Großbritanniens ist eine neue Grenze in Europa entstanden. Lkw-Fahrer Fischer gehört zu denen, die das zu spüren bekommen und doch die Entscheidung der Briten verstehen. Die EU habe ihm persönlich nichts gebracht, sagt er. Am Tag zuvor hat er in Crewe sechs Luxusautokarosserien aus Leipzig abgeliefert. Da traf er Stan. Zuletzt gesehen hatten sie sich vor Weihnachten. &bdquo;Wann warst du da zu Hause?", fragt Stan. &bdquo;Am Sonntag nach Weihnachten", sagt Fischer. &bdquo;Schlimm", sagt Stan. Fischer wollte am 23. Dezember zu Hause sein. Aber die News von der Coronavirus-Mutation und die Grenzschließung erwischten ihn. Weihnachten verbrachte er auf der Autobahn. &bdquo;Die Anwohner haben uns Essen gebracht, Suppe und Pizza von Tesco", erzählt er. Axel Fischer ist seit 1984 Lkw-Fahrer - Familientradition. Es sind damals die goldenen Zeiten des Fernverkehrs. Ohne Navi und Kontrolle der Fahrzeiten, ohne GPS-Tracking aus der Zentrale und getaktete Liefertermine. Trucker sein bedeutet Freiheit. Er verdient gutes Geld, arbeitet 260 Stunden im Monat, sorgt für seine vier Kinder, baut ein Haus. Im TV läuft damals &bdquo;Auf Achse" - das Truckerleben als Abenteuer. Fischer schaut die Serie heute noch zum Einschlafen inder Fahrerkabine. Montag, 15 Uhr, Thurrock, Ostengland Zollagent Wayne hat am Samstag nicht an Fischers Fenster geklopft. Am Sonntag auch nicht. Fischer steht mit seinem Jumbo-Lkw, 18,75 Meter lang, auf einer Raststätte bei London. Er wird die vierte Nacht hier verbringen. Die Vorräte werden knapp. In der Fahrerkabine hat er ein Kühlfach mit Mettwurst, Schinken, Streichkäse, Gouda, sauren Gurken, Tomaten, Fertigsuppe und Brot. Aber heute gibt es warm – im Fast-Food-Restaurant. 2005 enden Fischers goldene Jahre. Nach der EU-Osterweiterung lagern deutsche Firmen ihre Logistik nach Osteuropa aus. Auch Fischers Chef will sparen, macht ihm das Leben schwer, bis er kündigt. Er kauft einen Kühl-Lkw und fährt als Subunternehmer einer Spedition. Dienstag, 12 Uhr, Thurrock, Ostengland Fischer steht an der Raststätte an für den Coronatest. Zum zweiten Mal in vier Tagen. Die Tests sind 72 Stunden gültig, Fischers erster Test ist abgelaufen. Er dreht sich eine Zigarette. 47 andere Fahrer warten auch. Hinter ihm ein Slowene und ein Bulgare. In gebrochenem Englisch unterhalten sie sich. Der Slowene erzählt, mit Prämien und Spesen verdiene er 2.400 Euro im Monat. Mit vollen Spesen und Leistungsprämien für Monate ohne Krankschreibung verdient Fischer etwas mehr. Neulich habe sich ein Pole bei ihm beschwert: &bdquo;Die Rumänen und Bulgaren machen uns die Preise kaputt." Da musste Fischer lachen. &bdquo;Vor 15 Jahren habt ihr das bei uns gemacht", hat er geantwortet. Als Fischer 1987 die erste Tour nach England fährt, sind die Fahrer an den Raststätten meist Deutsche. Abends geht man in den Pub, unterhält sich. Vorbei die Zeit. &bdquo;Es spricht ja niemand Deutsch." Nach vier Stunden in eisigem Wind bekommt Fischer sein Testergebnis. Negativ. Positiv hätte Quarantäne in der Fahrerkabine bedeutet. Fischer hat in der Selbstständigkeit eine harte Lektion gelernt. Zweieinhalb Jahre fährt er fast ununterbrochen. Dann drängt ihn die Spedition, weitere Lkw anzuschaffen, mehr Fahrten zu machen. Er fügt sich, expandiert. Dann zahlt der Auftraggeber nicht mehr pünktlich. Es ist die Zeit der Finanzkrise. 2008 geht Fischer pleite, verliert Arbeit, Haus, Freunde. Bis heute ist er überzeugt, dass man ihn abschoss, weil die Konkurrenz aus Osteuropa billiger war. Dienstag, 19 Uhr, Folkestone, am Ärmelkanal Fischer macht sich bereit für die Nacht. Er hat ein Tablet dabei, Streamingdienste im Abo. Der Lkw ist neu, hat Standheizung und USB-Ladebuchse. Fischer zieht die Decke bis ans Kinn und schläft ein. Wenn er über 2008 redet, wühlt ihn das auf. &bdquo;Damals bin ich explodiert, bin laut geworden", sagt er. Als er Sozialhilfe beantragt, erklärt man ihm, er habe als Selbstständiger keinen Anspruch. Später bekommt er 200 Euro pro Woche. Nach zweieinhalb Monaten findet er einen neuen Job, fährt Nachttransporte der DHL. Tagsüber muss er auf Rastplätzen schlafen. Nach eineinhalb Jahren kann er nicht mehr und geht. Mittwoch, 3.30 Uhr, Folkestone Der Eurotunnel ist noch neun Kilometer entfernt. Spaß macht Fischer die Arbeit nur selten. Den Stundenlohn ausrechnen? &bdquo;Das darf man nicht machen." Seit 2012 arbeitet er bei der Spedition Kottmeyer. Der Job ist anstrengend, aber Kottmeyers seien anständige Leute. &bdquo;Mein Geld ist immer pünktlich am 10. des Monats da,manchmal sogar früher", sagt Fischer. Mittwoch, 5 Uhr, Folkestone Fischer nähert sich dem Eurotunnel. Zweimal werden Pass und Coronatest kontrolliert, einmal von Briten, einmal von Franzosen. Dann wird der Truck überprüft. Die Zollerklärung muss Fischer gar nicht zeigen, sie ist digital hinterlegt. Dann der Eurotunnel - kein Ort steht derart für Errungenschaften und Versagen der EU. Fährt man hindurch, zeigt das Handy selbst am tiefsten Punkt eine LTE-Verbindung. Das ist die eine Seite. Dieandere wartet in Calais. Wie ein Hochsicherheitstrakt sieht das Lkw-Terminal aus. Straßen und Gleise sind von vier Meter hohen Metallzäunen mit Stacheldraht umgeben. Eine Betonmauer trennt das Terminal von dem Ort, an dem bis 2016 Hunderte Geflüchtete campierten. Seit dessen Eröffnung ist Fischer über 1.500-mal durch den Eurotunnel gefahren. Wenn er sich vom Kontinent aus nähert, steigt Hunderte Kilometer davor die Aufmerksamkeit. In Belgien und Frankreich sollen Lkw-Fahrer außer zum Tanken nicht mehr halten. Zu groß ist die Gefahr, dass sich Geflüchtete einen Weg in den Lkw schneiden, auf den Achsen verstecken oder in Ersatzteilkisten klettern. Gibt es Stau, geht der Kampf los. Geflüchtete versuchen aufzusteigen. Im Terminal werden die Lkws mit Hunden und Scanner abgesucht. Schafft es ein Geflüchteter auf Fischers Lkw, wird der Hiddenhauser unfreiwillig zum Schlepper. Mittwoch, 13 Uhr, Shell Asten, Niederlande Kurz bevor Fischer die Grenze nach Deutschland überquert, kauft er in Holland Kaffee für sich und seine Frau. Zwei Packungen Kaffeepads, zwei Packungen Filterkaffee - günstiger als in Deutschland. Sein grenzüberschreitender Handel. Heute fährt er noch bis Recklinghausen. Morgen um 7 Uhr muss er seine Mikrowellen in Gütersloh abliefern.

Meistgelesen