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Mitten in der Krise: Die Möbelbranche in OWL erlebt unerwarteten Boom

Das Leid der Reisebranche wird zum Segen für eine andere. Drei Firmenchefs erzählen von der Achterbahnfahrt in diesem Jahr. Doch was genau kaufen die Menschen im Möbelhaus?

Rudolf Eikenkötter (l.), Inhaber der Rietberger Möbelwerke, und sein Marketingchef Andreas Nachtigall setzen auf Gesamtkonzepte beim Einrichten. Altrosa liegt dieses Jahr als Farbe im  Trend. | © Martin Fröhlich

Martin Fröhlich
23.09.2020 | 22.10.2020, 16:10

Rheda-Wiedenbrück/Rietberg. Die Möbelindustrie gehört zu den wichtigsten in OWL. Tausende Jobs und mehrere Milliarden Umsatz sprechen eine deutliche Sprache. In diesem Jahr erlebt die Branche und mit ihr all die Mitarbeiter und deren Familien gleich zwei Dramen: den totalen Einbruch und die wundersame Auferstehung. „Das war das Dramatischste, was man als Unternehmer erleben kann", sagt Jürgen Kleinegesser. Er ist Geschäftsführer des Polstermöblers 3C in Rheda-Wiedenbrück und beschreibt, was ab Mitte März zu Beginn der Corona-Krise geschah. Die Auftragslage brach völlig ein. „Gut sechs Wochen kam gar nichts mehr rein."

Wenige Kilometer weiter in Rietberg traf es Branchenkollege Rudolf Eikenkötter noch härter. Der Inhaber der Rietberger Möbelwerke sagt: „Wir mussten unseren Betrieb sogar für zwei Wochen schließen. Unglaublich." Danach folgte wochenlang Kurzarbeit, Homeoffice für die Verwaltung. "Das Schlimme dabei war", erklärt Oliver Höner, Geschäftsführer beim Möbelhändler Musterring in Rheda-Wiedenbrück, "dass niemand wusste, wie lange der Stillstand anhält. Das war beängstigend."

Ralf Lötfering ist Vertriebsleiter der belgischen Tisch- und Stühleherstellers Mobitec in OWL. - © Martin Fröhlich
Ralf Lötfering ist Vertriebsleiter der belgischen Tisch- und Stühleherstellers Mobitec in OWL. | © Martin Fröhlich

„Das ist ein Boom. Die Leute kaufen unablässig."

Die drei Firmenchefs erzählen von all dem bei ihren Hausmessen im Rahmen der Möbelmeile. Eigentlich geht es hier um neue Produkte, neue Farbtöne, neue technische Finessen. Doch in diesem Jahr ist das ein wenig in den Hintergrund gerückt. Bei Gastgebern und Händlern, die durch die Hallen schlendern, ist selbst hinter den Masken eine Art Lächeln zu erahnen. Ein Lächeln der Erleichterung. "Die ist derzeit überall zu spüren", sagt Michael Laukötter, Geschäftsführer der Möbelmeile.

Der Geschäftsführer der Möbelmeile, Michael Laukötter (l.), lässt sich von Jürgen Kleinegesse, Geschäftsführer 3C, den digitalen Konfigurator erklären. - © Martin Fröhlich
Der Geschäftsführer der Möbelmeile, Michael Laukötter (l.), lässt sich von Jürgen Kleinegesse, Geschäftsführer 3C, den digitalen Konfigurator erklären. | © Martin Fröhlich

Alle, die hier sind, sind noch einmal davongekommen. Mehr als das: Die Krise hat sie erwischt, doch was dann ab Juni geschah, kam für sie ebenso unerwartet: „Das habe ich in all den Jahren noch nicht erlebt", sagt Oliver Höner „Das ist ein Boom. Die Leute kaufen unablässig, wir kommen kaum hinterher." Inzwischen seien sogar die Lieferzeiten länger geworden. Geholfen hat den Möblern, dass NRW schon Ende April die Möbelhäuser wieder öffnete.

Michael Laukötter und Oliver Höner (r.), Inhaber von Musterring, in der großen Ausstellung des Händlers. - © Martin Fröhlich
Michael Laukötter und Oliver Höner (r.), Inhaber von Musterring, in der großen Ausstellung des Händlers. | © Martin Fröhlich

Die Achterbahnfahrt 2020 liest sich am Beispiel von Musterring so: Im April brach der Umsatz um 82 Prozent ein, Im Mai waren es noch rund 35 Prozent weniger, im Juni kippte es ins Plus und im Juli lag man 70 Prozent über den Erwartungen. Und diese Tendenz hält an. Die drei Firmenchefs sind inzwischen sicher, dass das Jahresziel 2020 trotz Corona erreicht wird, ja sogar noch etwas mehr.

Homeoffice ist ein Leitthema in diesem Jahr - am besten integriert ins Wohnzimmer. - © Martin Fröhlich
Homeoffice ist ein Leitthema in diesem Jahr - am besten integriert ins Wohnzimmer. | © Martin Fröhlich

Doch was kaufen die Menschen in OWL und dem Rest des Landes? „Alles", sagt Oliver Höner: „Das ist ja das Erstaunliche. Offenbar investieren die Leute das Geld, was sie nicht für Reisen oder Veranstaltungen ausgeben können, in die Inneneinrichtung." Das Leid der einen Branche werde so zur Wiederbelegung für eine andere, sagt Jürgen Kleinegesser. In seine Freude über die starken Zahlen mischt sich Sorge: „Die tatsächlichen wirtschaftlichen Folgen der Krise spüren wir erst 2021. Wenn dann eine Insolvenzwelle kommt und Hunderttausende Jobs verloren gehen, wird das unsere Kunden treffen und damit auch uns. Wir sind vorsichtig geworden." Oliver Höner formuliert das so: "Mehr als drei Monate Vorausplanung sind derzeit sehr mutig."

Plötzlich sind die Regale 2,60 Meter hoch

Bei aller Corona-Dramatik – natürlich geht es bei den Messen auch um Möbel. Dominante Trends gibt es derzeit nicht. Bis auf einen - den Wunsch nach Individualität bei Sofa, Tisch und Co. „Im gehobenen Preissegment erwarten die Kunden, dass wir ihre Wünsche in allen Details umsetzen", sagt Rudolf Eikenkötter. Er setzt auf „industriellen Innenausbau". „Wir versuchen, mit den Möbeln die Möglichkeiten der Räume voll auszunutzen", erklärt sein Marketingchef Andreas Nachtigall. Deshalb habe man etwa die Maximalhöhe der Regale auf 2,60 Meter erhöht. „Dann kommen wir bis an die Decke."

Im Fokus stehe die Idee ganzer Einrichtungskonzepte. Rudolf Eikenkötter: „Es geht oft nicht mehr nur um ein Möbelstück, sondern um eine Idee für mehrere Räume aus einer Hand." Häufig nachgefragt würden nun Homeoffice-Lösungen innerhalb des Wohnzimmers. "Das hat früher keine große Rolle gespielt."

Bei den Polstermöbeln setzt 3C ebenso auf Variantenreichtum. "Wir bauen modulartige Sofas, bei denen man fast bis ins Unendliche Details kombinieren kann", sagt Jürgen Kleinegesser. Wichtig sei ihm, dass die Umweltverträglichkeit eine wachsende Rolle spiele. "Wir verwenden verstärkt Leder mit dem staatlichen Umweltzeichen Blauer Engel."

Oliver Höner bei Musterring hat in Sachen Sortiment folgende Erkenntnis gewonnen: "Die Branche besinnt sich mehr auf Langzeitmodelle und rennt nicht mehr jedem Trend hinterher. Das muss nicht schlecht sein."