Corona bei Tönnies: Robert Tönnies fordert Rücktritt der Konzernspitze

Gütersloh/Rheda-Wiedenbrück. Die Menschen im Kreis Gütersloh und im weiten Umkreis sind über die Zahl von 650 Neuinfektionen beim Schlachtkonzern Tönnies tief erschrocken. Von der erneuten Schließung von Schulen und Kitas genervt und von weitergehenden Lockdown-Maßnahmen bedroht, fragen sich viele in ganz OWL: Wie konnte das passieren? Landrat Sven Georg Adenauer hat sich am Morgen noch einmal zu Wort gemeldet: "Ein Lockdown für den gesamten Kreis Gütersloh wäre unerträglich, und den möchte ich so lange es geht vermeiden", sagte Adenauer im ZDF-"Morgenmagazin". "Wir wissen genau, wo sich das Virus aufhält", fügte Adenauer hinzu. Denn ohne die Corona-Fälle beim Tönnies-Fleischkonzern "hätten wir im Kreis Gütersloh überhaupt kein Problem", sagte der CDU-Politiker weiter. "Deshalb werde ich mich nicht dazu entschließen, für den gesamten Kreis Gütersloh einen Lockdown auszurufen." &bdquo;Die vorliegenden Infektionszahlen der Firma Tönnies sind alarmierend. Ich bin entsetzt über die Lage", erklärte die Bielefelder Grünen-Politikerin und Bundestagsabgeordnete Britta Haßelmann. Sie macht &bdquo;die Bedingungen, unter denen Tausende Menschen im Land dicht an dicht in der Fleischindustrie arbeiten und beengt wohnen" für den neuen Ausbruch verantwortlich und fordert: &bdquo;Mit der Ausbeutung in der Schlachtbranche muss endlich Schluss sein." Robert Tönnies drängt auf Abschaffung von Werkverträgen Auch Robert Tönnies, der mit 50 Prozent am Tönnies-Konzern beteiligte Neffe des Konzernchefs Clemens Tönnies, meldete sich zu Wort – mit deutlicher Kritik: &bdquo;Ich bin schockiert über die hohe Zahl von Corona-Neuinfektionen in unserem Unternehmen", so der Sohn des verstorbenen Firmengründers Bernd Tönnies. "Dass gerade in Schlachtbetrieben die Infektionszahlen überdurchschnittlich hoch sind, ist ganz sicher auch dem System der Werkverträge geschuldet; es zwingt viele Arbeiterinnen und Arbeiter in unzumutbare Wohnverhältnisse, die mit einem hohen Ansteckungsrisiko verbunden sind und nur wenig Schutzmöglichkeiten bieten, wenn einmal eine Infektion auftritt." Er setze sich daher für die Abschaffung des Werkvertragssystems ein, betonte Tönnies, der seit Jahren mit seinem Onkel im Streit liegt. Rücktrittsforderung wegen "unverantwortlichen Handelns" Seine Vorstöße zur Änderung des Systems seien aber abgeblockt worden, klagt Robert Tönnies - die Folge seien nun unkalkulierbare Einbußen und ein "nicht mehr messbarer Reputationsschaden". In einem Brief an Geschäftsleitung und Beirat forderte er die Mitglieder beider Gremien daher dazu auf, wegen ihres "unverantwortlichen Handelns und der Gefährdung des Unternehmens und der Bevölkerung (...) geschlossen von Ihren Ämtern zurückzutreten". Unfassbar: Seit mehr als drei Monaten gibt es kein wichtigeres Thema als die Corona-Pandemie – und die zentrale Frage, wie man sich vor Ansteckung schützen kann. Auch die erhöhte Corona-Anfälligkeit von Mitarbeitern in Schlachthöfen ist längst bekannt. Bereits sechs Wochen ist es her, dass in mehreren Schlachthöfen bundesweit Corona-Infektionsherde entdeckt wurden – etwa beim Tönnies-Konkurrenten Westfleisch in den Schlachthöfen Coesfeld und Dissen. Mehrere vorübergehende Standort-Schließungen waren die Folge. Corona-Risiko in Schlachthöfen ist weltweites Problem Trotz allem sind die nötigen Konsequenzen im größten deutschen Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück offenbar nicht mit der nötigen Entschlossenheit gezogen worden. Während alle Welt sich auf die Normalisierung freute, musste Tönnies den bisher schlimmsten Ausbruch der Infektionskrankheit in einem deutschen Industriebetrieb melden. &bdquo;Die Infektionsgefahr für Corona ist in Schlachthöfen generell sehr hoch", sagt Armin Wiese von der Gewerkschaft NGG (Nahrung, Genuss, Gaststätten). Auch in Schlachtbetrieben in den USA, den Niederlanden und weiteren Ländern in aller Welt habe sich das Virus, das für die lebensgefährliche Lungenkrankheit Covid 19 verantwortlich ist, stark verbreitet. Schweißtreibende Arbeit und ungünstige Wohnverhältnisse Wiese sieht eine Reihe von Gründen dafür:Erstens hätten viele Mitarbeiter der Schlachthöfe schwere körperliche Tätigkeiten zu verrichten: &bdquo;Die Arbeit ist schweißtreibend und der Schweiß muss raus, ebenso wie der Atem", erklärt Wiese. Mundschutz und Kopfmaske könnten unter solchen Bedingungen einen Schutz für das Fleisch-Produkt vor Haaren oder Speichel bieten, aber kaum Gesundheitsschutz. &bdquo;Oft kommen sich die Beschäftigten auch untereinander nahe", weiß Wiese. Dies geschehe vor allem in der Fleisch-Zerlegung – im Normalbetrieb betrage der Abstand manchmal nur einen halben Meter. Ein zweiter Faktor seien die ungünstigen Wohnverhältnisse für viele der aus Osteuropa stammenden Werkvertragsarbeiter. &bdquo;Die leben eng beieinander, und Enge herrscht oft auch beim Transport", sagt Wiese. Die wegen der Corona-Krise geforderte Unterbringung in Einzelzimmern sei oft gar nicht möglich, &bdquo;woher sollen in so kurzer Zeit so viele Wohnungen kommen?", fragt Wiese. Das Wohnen in Mehrbettzimmern sei noch immer nicht ungewöhnlich für die Schlachthof-Mitarbeiter, in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung lebten dann sechs erwachsene Männer oder mehr: &bdquo;Und alle nutzen eine Küche, ein Bad und ein Klo." Arbeiter fürchten bei Krankheit den Verlust ihres Jobs Es gebe zwischen Rheda-Wiedenbrück und Gütersloh noch immer Massenunterkünfte für 100 oder mehr Werkvertragsarbeiter, weil es ansonsten zu wenig Wohnraum gebe: &bdquo;Und das ist so schnell auch nicht zu ändern", fürchtet Wiese. Ein drittes Problem könnte sich ergeben, wenn eine Infektion tatsächlich eingetreten ist: &bdquo;Zumindest in der Vergangenheit hat es das Problem gegeben, dass Werkvertragsmitarbeiter selbst dann zur Arbeit gingen, wenn sie sich krank fühlten", sagt Szabolcs Sepsi von der Beratungsstelle des Deutschen Gewerkschaftsbundes (Projekt &bdquo;Faire Mobilität") in Dortmund. Denn viele Arbeitnehmer fürchteten bei Krankheit den Verlust ihres Jobs oder zumindest finanzielle Einbußen, zumal es Subunternehmen gebe, die die Lohnfortzahlung auszuhebeln versuchten. &bdquo;Allerdings ist bei Corona der Respekt vor der Krankheit bei den meisten Arbeitern so groß, dass sie sich vernünftig verhalten", ist Sepsi überzeugt. Für infizierte Osteuropäer ergeben sich allerdings auch ganz praktische Probleme: &bdquo;Viele der Arbeiter sprechen kein Deutsch, sie wissen nicht, wo sie einen Arzt finden können – schon gar nicht einen, der ihre Sprache spricht", sagt Armin Wiese. &bdquo;Und die meisten haben kein eigenes Auto. Dann wohnt einer in einer Unterkunft in Verl und weiß nicht, wie er nach Langenberg kommt, wo es einen rumänischsprachigen Arzt gibt."

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